Neubeginn in chaoti­schen Wirren

Szenen vom Neubeginn des Staatstheaters. Foto: IBR
Szenen vom Neubeginn des Staatstheaters. Foto: IBR

75 Jahre Kriegs­ende, Folge 6: Das Staats­theater war im Jahr 1946 das Zentrum des Wieder­be­ginns kultu­rellen Lebens in Braun­schweig.

Den Anfang aller insti­tu­tio­nellen Kultur­ak­ti­vi­täten im Braun­schwei­gi­schen nach dem Zweiten Weltkrieg machte das Staats­theater Braun­schweig. Unter seinem ersten Inten­danten Dr. Jost Dahmen, der von Mai 1945 bis Februar 1946 im Amt war, nahm das Staats­theater unmit­telbar nach Kriegs­ende seinen Spiel­be­trieb wieder auf. Das Gebäude des Staats­thea­ters war im flammenden Inferno der Bomben­nacht vom 14. auf den 15. Oktober 1944 ein Opfer der totalen Zerstö­rung geworden, und im Anblick des Chaos soll ein namhafter deutscher Baumeister ausge­rufen haben: „Wieder­aufbau? Technisch, geldlich nicht möglich, sage ich Ihnen; was sage ich – seelisch unmöglich“. Aber die Seele des Theaters lebte, und so begann im Theater­leben das „Wunder von Braun­schweig“.

Unvor­stell­bare Begeis­te­rung

Das Ensemble, kriegs­ver­sehrt, aus den Rüstungs­werken oder aus Gefan­gen­schaft entlassen, fand sich allmäh­lich wieder zusammen, nahm mit unvor­stell­barer Begeis­te­rung die Arbeit erneut auf und begann sein Programm am 23. Juli 1945. Natürlich war dies in der Ruine am Steinweg nicht möglich, weshalb man nach Wolfen­büttel auswich. Im dortigen Lessing­theater gab das Staats­theater Braun­schweig mit einem bunten Programm „Oper – Operette – Tanz“ die erste Nachkriegs­vor­stel­lung überhaupt. Gastspiel­fahrten – meist auf offenen Lastwagen – folgten.

Theater in der Kant-Hochschule

Auch in Braun­schweig selbst wollte man wieder ein regel­mä­ßiges Programm anbieten. So wurde unter der techni­schen Leitung des Bühnen­be­triebs­in­spek­tors Josef Gebhardt der Umbau der Turnhalle der Kant-Hochschule zum neuen Theater­saal in Angriff genommen. Am 23. September 1945 um 11 Uhr war es schließ­lich soweit. Oberspiel­leiter Heinz Klevenow sprach zur Eröffnung des „Theaters in der Kant-Hochschule“ Johann Wolfgang Goethes „Zueignung“ aus dem „Faust“. Anschlie­ßend erklangen unter Leitung des neuver­pflich­teten General­mu­sik­di­rek­tors Albert Bittner das Concerto grosso d‑moll von Georg Friedrich Händel, Ludwig van Beetho­vens 6. Sinfonie sowie die 2. Sinfonie von Johannes Brahms. Der Anfang war gemacht.

Am Abend des gleichen Tages hob sich erstmals wieder der Vorhang vor einer atemlos erwar­tungs­vollen Theater­ge­meinde. Auf dem Spielplan standen „Die Maien­kö­nigin“ von Christoph Willibald von Gluck, Wolfgang Amadeus Mozarts „Schau­spiel­di­rektor“ und das Tanzspiel „Pan und Nymphen“ mit der Musik von Joseph Haydn. Aber noch etwas lasen die Besucher auf dem Theater­zettel: „Wir spielen wieder Tag für Tag“ – es war der 23. September 1945, fünf Monate nach Kriegs­ende und Befreiung!

Fast immer ausver­kauft

Fast 500 Sitzplätze bot dieser Veran­stal­tungs­raum in der Kant-Hochschule und – trotz hoher Eintritts­preise von mindes­tens 8,- RM für das Schau­spiel und höherer Preise für die Oper – waren fast alle Veran­stal­tungen und Theater­auf­füh­rungen bis zur Wieder­eröff­nung des Großen Hauses am 25. Dezember 1948 ausver­kauft. Bei dem unbän­digen Willen der Theater­leute und der ungebro­chenen Arbeits­kraft des ersten Inten­danten darf nicht unberück­sich­tigt bleiben, dass die Theater­ar­beit sowohl bei der Bevöl­ke­rung als auch bei den alliierten Militär­be­hörden große und konstruk­tive Unter­stüt­zung fand.

In Braun­schweig war sogar, will man den Worten von Zeitzeugen Glauben schenken, der eigent­liche Anstoß zur aktiven Theater­ar­beit vom engli­schen Group Captain Hicks gekommen, der im Übrigen für den kultu­rellen Wieder­aufbau in Braun­schweig insgesamt eine bedeu­tende Rolle gespielt hatte. Dahinter stand aller­dings auch eine wohlüber­legte Program­matik. Den Alliierten war durchaus bewusst, dass sie zum einen mit der Theater­ar­beit die eigene Kultur­pro­pa­ganda, und damit ein positives Element ihres Wirkens voran­brachten. Zum anderen herrschte die Meinung vor, Theater und Kunst seien „nun erst recht“ als Vermittler des Wahren, Guten und Schönen nötig, um den Neubeginn auch einer geistigen Erneue­rung der Deutschen in den chaoti­schen Wirren der Nachkriegs­zeit zu fördern.

Briten setzten Inten­danten ab

Am 15. Februar 1946 wurde der erste Intendant der Nachkriegs­zeit beim Staats­theater, Dr. Jost Dahmen, durch die britische Militär­re­gie­rung mit sofor­tiger Wirkung seines Postens enthoben. Der Oberspiel­leiter des Schau­spiels, Heinz Klevenow, übernahm für einige Tage kommis­sa­risch die Aufgabe, ehe dann am 25. Februar 1946 Heinrich Voigt das Amt als Intendant antrat. Er war bereits 1927 bis 1932 Oberspiel­leiter des Schau­spiels in Braun­schweig gewesen und hatte anschlie­ßend am Theater in Dessau gearbeitet. An beiden Stellen war er jeweils aufgrund seiner politi­schen Einstel­lung entlassen worden. Mit seiner Tätigkeit setzte eine Verla­ge­rung des Schwer­punktes auf das Schau­spiel mit modernen auslän­di­schen sowie deutschen Drama­ti­kern ein.

Die zweite Spielzeit 1946/47 setzte mit Lehárs „Lustige Witwe“ ein, und das Schau­spiel begann mit zwei Erstauf­füh­rungen. Es waren dies die Renais­sance­ko­mödie „Volpone“ und „Der geprellte Fuchs“ von Ben Jonson in der Nachdich­tung von Stephan Zweig. Auffal­lend war, dass man sich in ganz beson­derem Maße um Stücke auslän­di­scher, in erster Linie franzö­si­scher, engli­scher und russi­scher Autoren bemühte. So wollte man insbe­son­dere im Bereich des Schau­spiels nachweisen, dass „der Gedanke der Völker­ver­söh­nung, nicht der Verlet­zung und der einsei­tigen Tendenz­mache, wie wir sie in den vergan­genen zwölf Jahren erlebten“ den führenden Gedanken bei der Aufstel­lung des Spiel­planes ausmachte. Dieses hohe Ziel konnte eingelöst werden, wie der Spielplan des Jahres 1946 bewies.

Presse lobt das Staats­theater

Betrachtet man die überre­gio­nale Presse­be­richt­erstat­tung und deren Bewertung, so galt das Staats­theater Braun­schweig im Jahr 1946 als geradezu vorbild­haft fortschritt­lich in der deutschen Theater­land­schaft. Auch in den regio­nalen Medien wurde deutlich zum Ausdruck gebracht, dass das Staats­theater den allge­meinen Erwar­tungen entsprach, die unter den gegebenen Bedin­gungen „mit Recht an eine moderne Bühne gestellt werden können“. Besonders wichtig war es für eine zutref­fende Bewertung der Leistungen des Theaters im Jahr 1946, Aufga­ben­stel­lung und Reali­sie­rung in das richtige Verhältnis zu den finan­zi­ellen und äußeren Möglich­keiten des Theaters zu setzen.

Auch in den Besucher­kreisen war die Resonanz positiv, trotz Behelfs­mä­ßig­keit und Unzuläng­lich­keit der baulichen und techni­schen Voraus­set­zungen, zumal der Wieder­aufbau des Großen Hauses zu diesem Zeitpunkt stagnierte, und eine Verbes­se­rung allgemein nicht in Sicht war. Kritisch wurde beim Publikum lediglich vermerkt, dass die Eintritts­preise nach wie vor zu hoch und die Organi­sa­tion des Karten­ver­kaufs ausge­spro­chen mangel­haft seien. Aus diesen Gründen könnten es sich Arbeiter und Angestellte weder finan­ziell leisten, in das Theater zu gehen, noch hätten sie die notwen­dige Zeit, sich stunden­lang nach Karten anzustellen, um sich wenigs­tens einmal im Monat den Genuss einer Vorstel­lung oder eines Konzertes zu sichern.

Prof. Dr. h.c. Gerd Biegel ist Gründungs­di­rektor des Instituts für Braun­schwei­gi­sche Regio­nal­ge­schichte und Geschichts­ver­mitt­lung an der TU Braun­schweig.

Das könnte Sie auch interessieren