Riddags­hausen: Ein Ort für „fröhliche Büßer“

Die Klosterkirche ist das Zentrum des ganz besonderen Ortes Riddagsgausen. Foto: Der Löwe

Der frühere Pfarrer der Kloster­kirche, Joachim Hempel, verbindet in seinem Impuls­vortag anläss­lich des 3. Riddags­häuser Braun­kohl­es­sens Geschichte und Gegenwart des heutigen Natur­schutz­ge­biets.

Anläss­lich des 3. Riddags­häuser Braun­kohl­es­sens im Landgast­haus „Grüner Jäger“ hielt der ehemalige Dompre­diger und Pfarrer an der Kloster­kirche (1976 – 1987), Joachim Hempel, den Impuls­vor­trag „Riddags­hausen – Ort der fröhli­chen Büßer. Anmer­kungen aus Geschichte und Gegenwart, den der „Löwe – das Portal für das Braun­schwei­gi­sche“ hier im Wortlaut veröf­fent­licht:

„Wer am Mittwoch zwischen Volks­trau­ertag und Toten­sonntag zu einem ‚fröhlich- unter­halt­samen Abend‘ mit Braunkohl und Bregen­wurst einlädt, hat entweder nicht in den Kalender geguckt oder – sich mit dem Vortra­genden ins Benehmen gesetzt: Lieber Henning Borek, du hast in den Kalender geschaut und hast dich mit dem Vortra­genden bespro­chen, und zwar so: fröhlich-unter­haltsam soll er werden der Abend, und Bußtag ist ja auch. Du wirst das schon machen…

Ungewöhn­li­ches Ansinnen

Nun, Sie, liebe Gäste des heutigen Riddags­häuser Braun­kohl­a­bends, werden ja sehen: Wenn’s gut geht, kommen am Ende ‚fröhlich-unter­halt­same Büßer‘ dabei ‚raus, denn Riddags­hausen war und ist für Überra­schungen immer gut. Und die Geschichte dazu geht so: Als Abt und Konvent des Klosters an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhun­dert an das General­ka­pitel des Zister­zi­enser-Ordens in Citeaux eine dringende Bitte richten des Inhalts „Das oberste Entschei­dungs­gre­mium des Ordens möge der Verlegung des Kirch­weih­festes von Mitte Juni auf den Spätherbst zustimmen“, löste das zunächst Verwun­de­rung aus; denn der Tag der Weihe der Kloster­kirche (es war wohl der 15. Juni) war ja gesetzt. Verlegung?

Joachim Hempel war von 1976 bis 1987 Pfarrer der Kloster­kirche. Foto: privat

Was war in Riddags­hausen Drama­ti­sches geschehen, das solch ein Ansinnen ernsthaft und nicht zur Lachnummer im gesamten Orden mit seinen über 700 Klöstern quer durch Europa werden ließ? Und die waren übrigens bestens vernetzt, analog! Durch gegen­sei­tige Besuche. Also, was war Drama­ti­sches los? Die Braun­schweiger waren los… Denn wie immer: Verbo­tenes lockte sie zu Tausenden; nie war die Weisheit ‚eine Stadt braucht Auslauf‘ besser zu sehen, zu erleben, mit Händen zu greifen als hier, wenn einmal im Jahr – eben am Tag der Kirchweih – das Kloster weit draußen vor den Stadt­toren seine eigene Kloster­pforte öffnete, um jedem Mann, gar jeder Frau samt Kind und Kegel Einlass zu gewähren.

Die Städter kamen in Scharen

Und sie kamen, in Scharen – irgendwie so wie zweimal Dorfmarkt zusammen und noch viel mehr. Doch kamen sie nicht um des Essens und Trinkens willen, nicht um watschelnde Gänse und Enten mit Kloster­bru­ders Flöten­musik zu erleben, auch die Schüd­de­kappe wurde nicht feilge­boten, – sondern es ging um weit mehr, um etwas ganz Anderes, es ging ums Seelen­heil!

Selbst die bis in unsere Tage sonst religiös eher unmusi­ka­li­schen und dem Kernsatz ‚Ich glaube nur, was ich sehe‘ verpflich­teten Braun­schweiger rannen, liefen, stürmten ins Kloster ihres Seelen­heils willen. Denn mittel­al­ter­lich gewach­sene Frömmig­keit, vor allem die so im Alltag aufs ganz praktisch Alltäg­liche aus der latei­ni­schen Messe herunter inter­pre­tierte Frömmig­keit – also dieses ‚Das tut man, das tut man nicht, das ist böse, das ist gut, das sind die Gebote, das ist Sünde‘. Diese mittel­al­ter­liche Frömmig­keit lebte von der – heutzu­tage werden säkular einge­stellte Bürge­rinnen und Bürger es so am besten verstehen – mittel­al­ter­liche Frömmig­keit lebte von der Bankkon­to­er­kenntnis von ‚Soll und Haben‘!

Dem Haben an guten Taten, an lobens­werten Werken und barmher­zigen Almosen­geben, dem Nächsten in der Not ein Helfer oder gar Samariter zu sein, gar dem Heiligen Martin nachei­fernder, den Mantel-Teilender zu sein, neben diesen guten Taten stand eben das Soll der gebro­chenen Gebote und missach­teten Regeln des Klerus und der Obrigkeit, der alltäg­liche Ellen­bo­gen­ein­satz, das Rauben, Meucheln, Entführen, Hassen, Verleumden und, ums mit Luther zu sagen, ‚After­reden‘, – heute heißt das verdeng­lischt Fake News – gegenüber.

Diesseits kurz, Jenseits lang

Und da die lebens­prallen Vorbilder der Unmenge von Heiligen, die man verehrte, um Hilfe für das ewige Seelen­heil zu erlangen, weil diese Vorbilder praktisch und theore­tisch nicht noch so eifernd erreicht werden konnten, war‘s wie beim Geldkonto auch oft: Soll war höher als Haben! Große Not! Denn bei durch­schnitt­li­cher Lebens­er­war­tung von 30 plus x Jahren, war Diesseits kurz, aber Jenseits lang!

Da kamen die Riddags­häuser Mönche gerade recht: Sie standen bei den Städtern in hohem Ansehen. Ihnen sah man das ora et labora schon an ihren grauen Arbeits­kutten an, die sie auch am Grauen Hof in der Stadt, wo das Kloster einen Handelshof besaß, trugen, wenn sie den Braun­schwei­gern Obst und Gemüse, Kräuter und Fisch und (Braun-)Kohl anboten; alles bio natürlich, regional eben, Hofladen mitten in der Stadt.

Sollen wir grad der Allge­mein­bil­dung noch etwas aufhelfen? Die Handels­höfe der eine Stadt umgebenden Klöster waren die Wirtschafts- und Finanz­höfe ihrer Zeit: In der Stadt Würzburg gab es 70 solcher Handelsplätze,da waren die Fugger & Co noch nicht erfunden…

Kein Wunder, dass der Graue Hof des Klosters Riddags­hausen später den Küchen­garten des hier erbauten Residenz­schlosses und heute die Shopping Arkaden, aller­dings mit viel zu wenig Nachh­hal­tigem oder gar Regio­nalem, beher­bergte und noch beher­bergt. Ob das Kloster dafür eigent­lich entschä­digt wurde? Wohl nicht, denn inzwi­schen hatte die Refor­ma­tion das Kloster­leben verändert, und der Herzog hatte längst die lukra­tiven Lände­reien in seine Kloster­kammer inkor­po­riert.

Hang zur Krämer­seele

Doch nochmal zurück zum Soll und Haben, zur Aussicht auf ewiges Leben oder eher ewiges Höllen­leiden: Gar nicht plastisch genug kann man sich‘s vorstellen: Also, die ora et labora-Zeitge­nossen der Städter hatten, das wussten jede und jeder – mehr an guten Werken angehäuft im Laufe eines Jahres, gar mehrerer Jahre, als dass sie es für ihr persön­li­ches Seelen­heil je brauchen würden. Und da der Mensch schon immer ein bisschen genbe­dingt und sozial­ge­schicht­lich belegt einen Hang zur Krämer­seele hatte, galt auch hier: Was muss ich tun, um dies oder jenes dabei zu erzielen, zu gewinnen, zu bekommen: Na, nach Riddags­hausen pilgern, dabei sein, Anteil bekommen an den guten Werken der Mönche, opfern und beten, Messe mitfeiern, Almosen geben, frommer Wandel – mindes­tens als Ein-Tag-im-Jahrzeit­fenster!

Und wenn abends um 18 Uhr die Kloster­pforte sich wieder schloss, Abt und Konvent samt Konversen – den Laien­brü­dern – mit großen Weihrauch­ge­fäßen das gesamte Kloster­areal singend und betend abschritten – interne Prozes­sion – um alles vom Übel der Städter, von üblichen Hinter­las­sen­schaften (die mussten ja schließ­lich auch mal…) bis zum Seelen­müll zu reinigen, – dann waren Selbige, die Braun­schweiger und wer weiß, wer da noch so dabei war aus Querum und Bortfeld, aus Lumpen­büttel oder Lütjen Schep­pen­stedt (Hannover gab‘s ja noch nicht – und die hätten Kloster Loccum in Reich­weite), also dann zogen die Städter frohgemut, weil Sünden entledigt, mit guten Dingen in Herz und Sinn ermuntert wieder heim in ihre Hütten und wenigen Stein­häuser. Riddags­hausen – Ort der fröhli­chen Büßer!

Zertram­pelte Wege, nieder­ge­walzte Felder

Doch das war nur die halbe Wahrheit, denn zurück­ließen sie nach Kloster­quellen zertram­pelte Wege, nieder­ge­walzte Felder, ja gar platt gequetschte Deiche und über die Ufer getretene Bäche und Teich­wässer. Das gab Abt und Konvent dann unterm Strich doch den Rest und ward zur Begrün­dung des Anliegens an das General­ka­pitel des Ordens in Citeeaux. Am jährli­chen General­ka­pitel nahmen Gesandte sämtli­cher Klöster teil, also konnte Riddags­hausen Rede und Antwort stehen: Dem Anliegen wurde statt­ge­geben, der Kirch­weihtag wurde auf Herbst nach der Ernte verlegt!

Von Martin Luther stammt der Satz: ‚Buße ist ein fröhli­ches Geschäft‘. Sie führt zu Erkenntnis und Klarheit, sie hilft beim Unter­scheiden von gut und böse, von richtig und falsch; Buße läutert und führt zu Weisheit; denn Buße ist gegründet im Wissen darum, dass alles Leben immer auch Leben in der Verant­wor­tung vor dem Schöpfer des Lebens ist. Deswegen bist du Mensch gut aufge­hoben, wenn du dich in der Schöpfung, in der Natur als Teil von ihr verstehst, und weil du hier das Staunen wieder lernst, wie wunderbar sie gemacht ist diese deine dir anver­traute Erde. Und sieh auf zu den Sternen, damit du nicht überheb­lich wirst auf dem Weltall Winzling ‚Erde‘, der du dazu neigst, dich für das Wichtigste überhaupt zu halten und dich voller Hybris selbst die Krone der Schöpfung aufge­setzt hast!

Natürlich, die Zeiten haben sich geändert; das Kloster­leben und der Graue Hof, die Weihrauch­ge­fäße schwen­kenden Reini­gungs­ri­tuale und die verschlos­sene Kloster­pforte sind Vergan­gen­heit – aber Riddags­hausen ist!!! Glück­li­cher­weise sind die Baupläne für eine Garten­stadt zwischen Hassel­teich und Gänsekamp in den Schub­laden des Rathauses geblieben, und nach der Einge­mein­dung 1934 auch nicht wieder­be­lebt worden. Braun­schweig, die große Stadt, leistet sich Riddags­hausen als Natur­schutz­ge­biet und Europa­re­servat, mit wenigen Einwoh­nern, aber solche einer ganz beson­deren Art, die nun wiederum Völker­scharen ganz anderen Ausmaßes mit ertragen, von denen aller­dings – davon bin ich fest überzeugt – die meisten hier draußen immer noch mehr suchen als ‚nur Auslauf‘.

Ein beson­derer Ort

Dieses wundersam erhaltene Stückchen Erde dient der ‚Recrea­tion des Gemüts‘ (Formu­lie­rung zum Sonntags­schutz im Grund­ge­setz); hier bist du von einer Atmosphäre der beson­deren Art umfangen, tauchst in sie ein – auch joggend oder nur vorbei­fah­rend. Ökono­misch ist das hier bestes Bauland (und Inves­toren würden sich sehr leicht finden…), – doch dank vielfäl­tigen Engage­ments vor allem in den letzten hundert Jahren ist es ein beson­derer Ort für viele geblieben.

Und unter­schätzen wir das nicht: Buchhorst und Teiche, Bäume und Tiere, Luft und Kloster­garten, Kloster­gärt­nerei und vor allem sie, die wie eine große Glucke die Landschaft bemuttert, die ihre Erbauer hier schufen, sie, die Kloster­kirche mit ihrer wunder­baren Frauen­ka­pelle, all das dient noch immer der Gesund­heit von Leib und Seele. Hier kann der Mensch sich laben und auftanken, Glück und Frieden finden.

Gestärkt, beschenkt und beglückt

Und so kamen sie denn auch immer wieder, die Argonauten, die Kleider­seller, die Vogel­en­thu­si­asten, Spazier­gänger mit und ohne Kinder­wagen, Radler, Schlitt­schuh­läufer, Jogger, Fotografen, Klein­gärtner, Musik­freunde, Geschichts­in­ter­es­sierte, Kirchen­schläfer, Dorfmarkt­freunde, VW-Semina­risten, Diako­niker, Kinder und Jugend­liche, Pfadfinder und Waldforum-Begeis­terte, Braut­paare, Kasta­ni­en­sammler, Gastro­no­mie­freunde und Karpfen­käufer: eigent­lich alle, irgend­wann, irgendwie, irgend­warum! Und oft, sehr oft zogen sie danach wohlgemut und gestärkt, beschenkt und beglückt wieder von dannen.

Für mich bleibt Riddags­hausen ein Ort der Entlas­tung von Alltags­schwere und Problem­last, ein Ort der leibli­chen und seeli­schen Einkehr, ein Ort fröhli­cher Büßer. Ob all die Menschen das nun so sagen würden oder andere Worte dafür finden, ist mir wurscht. Alte Braun­schweiger würden vielleicht sagen ‚frische Luft da draußen, pustet den Brägen durch, macht den Kopf frei… Na dann: Guten Abend, gutes Essen, gute Gespräche und eine fröhliche Heimkehr! Gott befohlen!“

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