Ines Geipel erhält den Lessing-Preis 2020

Ines Geipel stellt auf der Leipziger Buchmesse 2019 ihr Buch „Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass“ (Kiepenheuer & Witsch) vor. Foto: Wikipedia/Amrei-Marie
Ines Geipel stellt auf der Leipziger Buchmesse 2019 ihr Buch „Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass“ (Kiepenheuer & Witsch) vor. Foto: Wikipedia/Amrei-Marie

Die Autorin und frühere DDR-Weltklasse-Sprin­terin kriti­siert in ihren Romanen, Essays und litera­ri­schen Sachbü­chern das Mitmachen und das Verdrängen.

Die Jury hat die Preis­trä­gerin des Lessing-Preises für Kritik 2020 bekannt­ge­geben. Ausge­zeichnet wird die Autorin und frühere DDR-Weltklasse-Sprin­terin Ines Geipel. Die komplexen Zwänge einer Diktatur mit ihren zerset­zenden Wirkungen auf den Einzelnen seien Thema ihrer Romane, Essays und litera­ri­schen Sachbü­cher. Die 59 Jahre alte Schrift­stel­lerin und Publi­zistin verstehe es, die Erfah­rungen des Einzelnen immer auch in ihrer politisch-histo­ri­schen Dimension und als Resonanz­raum für die Gegenwart zu erörtern, lobt die Jury.

Geipel setzt sich als „scharfe Kriti­kerin“ vor allem mit der DDR-Diktatur und dem Staats­do­ping in der DDR ausein­ander. Darüber hinaus hat sie sich als Litera­tur­wis­sen­schaft­lerin für die Rehabi­li­tie­rung von Autorinnen und Autoren in der DDR einge­setzt, die aus politi­schen Gründen „unsichtbar“ gemacht wurden. Diese Arbeit mündete vom Jahr 2000 an im Aufbau der „Archivs der unter­drückten Literatur in der DDR“, merkt die Jury an.

Die Ehrung findet am 10. Mai 2020 im Lessing­theater Wolfen­büttel statt. Der Lessing-Preis für Kritik wird seit dem Jahr 2000 alle zwei Jahre von der Lessing-Akademie Wolfen­büttel, der Braun­schwei­gi­schen Stiftung und diesmal erstmals auch der Stadt Wolfen­büttel vergeben. Ines Geipel, die als Profes­sorin an der Hochschule für Schau­spiel­kunst in Berlin arbeitet, wurde bereits mit dem Antiquaria-Preis für Buchkultur (2011), dem DJK-Ethik-Preis des Sports (2011), dem Bundes­ver­dienst­kreuz am Bande (2011) und dem Goldenen Band der Sport­presse (2017) prämiert.

Mit dem Lessing-Preis werden nach dem Vorbild des Aufklä­rers und früheren Wolfen­büt­teler Biblio­the­kars der Herzog August Biblio­thek, Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), bedeu­tende, geistig und insti­tu­tio­nell unabhän­gige, risiko­freu­dige und kritische Leistungen gewürdigt. Es gehört zu der Beson­der­heit des Preises, dass der Preis­träger einen Förder­preis­träger eigener Wahl bestimmt. Dotiert ist der Lessing-Preis für Kritik mit insgesamt 20.000 (15.000 und 5.000) Euro.

Für den Förder­preis hat Ines Geipel mit Ekaterina Melnikova, Ekaterina Pavlenko und Margarita Masly­u­kova drei junge Histo­ri­ke­rinnen Forsche­rinnen vorge­schlagen. Sie gehören der Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tion „Memorial“ an und arbeiten zur Geschichte der fried­li­chen Revolu­tion 1989 in Russland. Aktuell präsen­tieren sie ihre Ausstel­lung „Vor der Wand“, die den Konnex zwischen den fried­li­chen Protesten 1989 und der Notwen­dig­keit von Protesten im gegen­wär­tigen Russland sucht.

Ines Geipel, 1960 in Dresden geboren, zählte Anfang der 1980er Jahre Mitglied der DDR-Leicht­ath­letik-Natio­nal­mann­schaft. Als amtie­rende Weltre­kord­lerin der 4x100m-Staffel versuchte sie 1984 zu fliehen, wurde aber von der DDR-Staats­si­cher­heit gefasst. „Bei einer Bauch­ope­ra­tion wurde sie schwer misshan­delt. Ihre Sport-Karriere musste sie abbrechen. 1985 begann sie ein Germa­nis­tik­stu­dium an der Univer­sität Jena, wo sie Kontakt zu Opposi­ti­ons­gruppen aufnahm. Die Arbeit an einer Disser­ta­tion durfte sie wegen dieser Kontakte nicht aufnehmen. Im Sommer 1989 floh sie über Ungarn aus der DDR. An der TU Darmstadt studierte sie Philo­so­phie und Sozio­logie“, wird ihr Leben in der Presse­er­klä­rung zur Preis­ver­gabe beschrieben.

Mit der Macht der Ideologie in wörtli­cher, schmerz­hafter, körper­li­cher Weise in Berührung gekommen, habe Ines Geipel Worte für den einschlä­gigen Zusam­men­hang von Verdrän­gung und Gewalt gefunden, dem sie mit ganz eigenen Formen der Aufar­bei­tung begegne, heißt es in der Jury-Begrün­dung. Im 2019 erschienen Essay „Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass“ beschreibe sie die Verstri­ckungen der eigenen Familie in die Holocaust-Verwal­tung, die SS, die Stasi. Heraus­ge­kommen sei eine Geschichte über das Mitmachen und Verdrängen, die, weil sie nie zur Sprache gekommen sei, auch die Folge­ge­nera­tionen defor­miere.

Zur Jury für den Lessing-Preis gehören die Münchener Publi­zistin Dr. Franziska Augstein, die Konstanzer Romanistin Prof. Dr. Ulrike Sprenger, der Leiter des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt Braun­schweig Prof. Dr. Joachim Block, der Hallenser Germanist Prof. Dr. Daniel Fulda sowie Prof. Dr. Cord-Friedrich Berghahn, Germanist aus Braun­schweig und Präsident der Lessing-Akademie.

Bisherige Preis­träge und Förder­preis­träger: Karl Heinz Bohrer / Michael Maar (2000), Alexander Kluge / St. Peters­burger Cello-Duo (2002), Elfriede Jelinek / Antonio Fian (2004), Moshe Zimmer­mann / Sayed Kashua (2006), Peter Sloter­dijk / Dietmar Dath (2008), Kurt Flasch / Fiorella Retucci (2010) Claus Peymann / Nele Winkler (2012), Hans-Ulrich Wehler/Albrecht von Lucke (2014) Dieter Wieland / Thies Marsen (2016) sowie Elizabeth T. Spira / Stefanie Panzen­böck (2018).

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