Die Kritik: „Trotz aller Ressourcen keine Chancen­gleich­heit“

Cord-Friedrich Berghahn, Präsident der Lessing-Akademie, überreichte Vanessa Vu den Lessing-Preis für Kritik. Foto: DBS/Peter Sierigk

Lessing-Preis wurde an die Zeit-Online-Journa­listin Vanessa Vu für ihre Haltung in Podcasts und Instagram-Talks verliehen.

Dichter Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) hat die Kritik zur Inter­ven­tion erhoben. Mit seinen Werken und Auffüh­rungen begrün­dete er erst eine kritische Öffent­lich­keit. Mit der diesjäh­rigen Verlei­hung des Lessing-Preises für Kritik an die Zeit-Online-Journa­listin Vanessa Vu, die für ihre Inter­ven­tionen in digitalen Medien ausge­zeichnet wurde, habe die Auszeich­nung eine neue Wendung genommen, sagte Cord-Friedrich Berghahn, Präsident der Lessing-Akademie. „Podcasts und Instagram-Talks sind dabei nur scheinbar weit weg von Lessings Ansatz. Denn es eint sie das gemein­same Ziel, nämlich mit ihrer Kritik Öffent­lich­keit zu erreichen“, argumen­tierte er während der Preis­ver­lei­hung im Wolfen­büt­teler Lessing-Theater.

Beispiel­ge­bend für die ausge­zeich­nete Arbeit von Vanessa Vu wurde im Rahmen der Zeremonie ihr mit Minh Thu Tran gemeinsam produ­zierter Podcast über den ersten rassis­tisch motivierten Mord in der Bundes­re­pu­blik abgespielt. Beim Brand­an­schlag auf eine Flücht­lings­un­ter­kunft in Hamburg am 22. August 1980 starben zwei junge Männer (18 und 22 Jahre alt). Sie waren als sogenannte Boatpeople aus Vietnam nach Deutsch­land gekommen. Das Ereignis griff Vanessa Vu in ihrer unabhän­gigen Reihe „Rice and Shine“ anläss­lich des 40. Jahres­tags 2020 auf. Sie recher­chierte in alten Gerichts­akten, alten Zeitungs­be­richten und führte Gespräche mit Zeitzeugen.

Heraus­ge­kommen ist der spannende und gleichsam erhel­lende Podcast, der unter www.riceandshine-podcast.de/2020/08/22/hamburg-1980/ zu hören ist.

„Lessing aktueller denn je“

Der Lessing-Preis für Kritik wird seit dem Jahr 2000 im zweijäh­rigen Rhythmus von der Lessing-Akademie und der Braun­schwei­gi­schen Stiftung verliehen. Seit 2019 ist die Stadt Wolfen­büttel als dritte preis­ver­ge­bende Einrich­tung beteiligt. Mit dem Preis wird, nach dem Vorbild Lessings, Kritik in einem elemen­taren, fachüber­grei­fenden, auch gesell­schaft­lich wirksamen Sinn ausge­zeichnet: Kritik als bedeu­tende, geistig und insti­tu­tio­nell unabhän­gige, risiko­freu­dige Leistung. „Wir leben in einer Zeit, in der Kritik­fä­hig­keit und Kritik­be­reit­schaft abnehmen. Wenn es dunkler in der Welt wird, sind Leucht­türme wichtig. Lessing ist aktueller denn je, der Lessing-Preis wichtiger denn je“, erklärte Gerhard Glogowski, Vorstands­vor­sit­zender der Braun­schwei­gi­schen Stiftung.

Gruppen­bild vor dem Lessing-Theater (v.l.): Corinna Fischer (Nieder­säch­si­sches Minis­te­rium für Wissen­schaft und Kultur), Cord-Friedrich Berghahn, Moshtari Hilal, Sinthujan Varat­ha­rajah, Gerhard Glogo­weski, Vanessa Vu und Lauda­torin Bascha Mika. Foto: DBS/Peter Sierigk

Die Laudatio auf Vanessa Vu hielt Bascha Mika, Profes­sorin an der Univer­sität der Künste Berlin und Mitglied im Stiftungsrat für den Friedens­preis des Deutschen Buchhan­dels. Sie lobte: „Der mehrfach ausge­zeich­nete Podcast ‚Rice and Shine‘, den Vanessa Vu seit 2018 mit Minh Thu Tran betreibt, beschäf­tigt sich mit all den Phäno­menen, die die gesell­schaft­liche Spaltung und ihre Überwin­dung aus der viet-deutschen Perspek­tive betreffen, hervor­ra­gend in der Form, handwerk­lich vorbild­lich, profes­sio­nell nach allen Regeln der Podcast­kunst. Und das alles mit einem großar­tigen Gespür für die richtigen, wichtigen und durchaus auch unter­halt­samen Themen.“

„Nur der Gute-Laune-Teil“

In ihrer Dankes­rede verwies Vanessa Vu trotz aller Freude über die Auszeich­nung vor allem auf Missstände, die Minder­heiten in der Gesell­schaft bis heute noch immer erdulden müssten. „Natürlich freue ich mich über die vielen Chancen und Räume, die sich mir eröffnen. Meine Freude darüber ist aber immer wieder auch davon getrübt, dass ich eine Ausnah­me­erschei­nung bin. Warum bin ich bis heute in so vielen Räumen und Positionen, die gesell­schaft­lich anerkannt sind und auch die Macht haben, die Gesell­schaft zu prägen, immer wieder eine der sehr wenigen nicht weißen Personen? Warum gibt es dort nicht mehr Menschen, die aus struk­tur­schwa­chen Räumen kommen, die in Armut aufge­wachsen sind, die weiblich oder non-binär sind, die eine Behin­de­rung haben oder anders glauben, als die christ­liche Mehrheit? Was von außen gerne als Erfolg gewertet wird, ist für mich auch ein Armuts­zeugnis. Denn der objektive Erfolg von Einzel­per­sonen wie mir ist nur der schöne Teil, ist der Gute-Laune-Teil einer Gesell­schaft, der es trotz aller Ressourcen und verfas­sungs­recht­lich verbriefter Ziele bis heute kaum gelungen ist, für Chancen­gleich­heit und fair verteilte Teilhabe zu sorgen“, kriti­sierte Vanessa Vu.

Vanessa Vu, 1991 geboren als Vu Hong Van, ist Tochter vietna­me­si­scher Einwan­derer. Die Familie verbrachte ihre ersten Jahre in Deutsch­land in einem Asylbe­wer­ber­heim im nieder­bay­ri­schen Pfarr­kir­chen. Nach dem Abitur studierte Vu Ethno­logie und Völker­recht an der Ludwig-Maximi­lians-Univer­sität München, Sozial­wis­sen­schaften in Paris und Südost­asien-Studien in London. Anschlie­ßend absol­vierte sie die Deutsche Journa­lis­ten­schule München. Sie war Stipen­diatin der Heinrich-Böll-Stiftung, die sie im Programm „Medien­viel­falt, anders“ förderte.

Ausgren­zung und Anfein­dungen

Während ihrer Kindheit und Jugend, so berich­tete sie, erlebte sie aller­dings schwie­rige Situa­tionen, auch Ausgren­zung und Anfein­dungen. „Ich war überzeugt, wenn ich hier offenbar nicht hingehöre, dann sollte ich wenigs­tens nicht negativ auffallen. Ich lernte also, jedes Spiel so mitzu­spielen, dass ich am besten keine Aufmerk­sam­keit erzeuge. Ich ging lange Zeit so klein und leise wie ich konnte, durch die Welt. Ich schlich und flüsterte mich durch meine ersten Jahre“, schil­derte sie die Zeit, bevor sie eine selbst­be­wusste, kritische und vielfach ausge­zeich­nete Journa­listin wurde, die die wahrnehm­bare Stimme so vieler Menschen geworden ist, die wie sie einst einfach schweigen.

Preis­trä­gerin Vanessa Vu während ihrer Dankrede. Foto: DBS/Peter Sierigk

Zur Beson­der­heit des Preises zählt, dass die Preis­trä­gerin bezie­hungs­weise der Preis­träger eine Förder­preis­trä­gerin bezie­hungs­weise einen Förder­preis­träger eigener Wahl bestimmt. Dotiert ist der Preis mit insgesamt 20.000 (15.000 und 5.000) Euro. Vanessa Vu wählte die Künst­lerin Moshtari Hilal und den Geograph Sinthujan Varat­ha­rajah als Förder­preis­träger aus.

Begrün­dung der Jury für die Preis­ver­gabe an Vanessa Vu: „Mit dem Lessing-Preis für Kritik zeichnet die Jury eine junge, vielseitig aktive Journa­listin aus, die sich mit einem scharfen, aufmerk­samen Blick nah am Puls der Zeit bewegt. Vanessa Vu, in Deutsch­land als Kind vietna­me­si­scher Einwan­derer geboren, bringt in ihren Texten, Podcasts und Gesprächs­reihen unerzählte Geschichte zu Gehör und lotet dabei die Untiefen des gesell­schaft­lich scheinbar Selbst­ver­ständ­li­chen aus. Mutig, berei­chernd und pointiert kontu­riert sie über den Horizont eigener Erfah­rungen hinaus das Gesicht der viet-deutschen „Genera­tion 1991“. Die Vielschich­tig­keit der Stimmen, die sie ohne Vorbehalt zu Wort kommen lasst, ihre – mit Lessing gespro­chen – „aufrich­tige Mühe um Offen­le­gung von Herkunft, Rassismus und Diskri­mi­nie­rung sowie ihr Gespür, die Bedürf­nisse einer medien­be­wussten Gesell­schaft zu hinter­fragen, finden in Lessings wissbe­gie­riger, beweg­li­cher und unvor­ein­ge­nom­mener Haltung ihren Widerhall. Mit ihrer journa­lis­ti­schen Arbeit tritt Vanessa Vu entschlossen für inklusive Erzähl­weisen ein, ohne die Beson­nen­heit kriti­schen Fragens aus den Augen zu verlieren.“

Die Jury 2022:  Franziska Augstein (Publi­zistin, München), Cord-Friedrich Berghahn (Präsident der Lessing-Akademie Wolfen­büttel), Peter Burschel (Direktor der Herzog August Biblio­thek Wolfen­büttel), Lena Gorelik (Schrift­stel­lerin, München), Angela Ittel (Präsi­dentin der TU Braun­schweig), Albrecht von Lucke (Publizist, Berlin).

Die bishe­rigen Preis­träger (in Klammern Förder­preis­träger):

2000: Karl Heinz Bohrer (Michael Maar)
2002:  Alexander Kluge (St. Peters­burger Cello-Duo)
2004: Elfriede Jelinek (Antonio Fian)
2006:  Moshe Zimmer­mann (Sayed Kashua)
2008: Peter Sloter­dijk (Dietmar Dath)
2010: Kurt Flasch (Fiorella Retucci)
2012: Claus Peymann (Nele Winkler)
2014: Hans-Ulrich Wehler (Albrecht von Lucke)
2016: Dieter Wieland (Thies Marsen)
2018: Elizabeth T. Spira (Stefanie Panzen­böck)
2020:  Ines Geipel (Margarita Masly­u­kova, Ekaterina Melnikova, Ekaterina Pavlenko)

Die Preis­trä­gerin Vanessa Vu (Mitte) mit den Förder­preis­trä­gern Moshtari Hilal und Sinthujan Varat­ha­rajah. Foto: DBS/Peter Sierigk

Fakten

Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781), Biblio­thekar der Herzog August Biblio­thek, war ein bedeu­tender Dichter der Aufklä­rung. In seinen Stücken beschäf­tigt er sich vor allem kritisch mit Themen der Religion und der Toleranz. Seine Werke werden bis heute ununter­bro­chen aufge­führt. Neben Nathan der Weise gehört Emilia Galotti zu seinen bekann­testen Dramen. Es wurde am Herzog­li­chen Opernhaus am Hagen­markt in Braun­schweig 1772 urauf­ge­führt. Lessing starb in Braun­schweig. Sein Grab befindet sich auf dem Magnif­riedhof an der Ottmer­straße.

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