Politisch auf dem Weg aus dem Chaos

Prof. Gerhard von Frankenberg (am Rednerpult) während der letzten Sitzung des Braunschweigischen Landtags. Foto: Universitätsbibliothek Braunschweig
Prof. Gerhard von Frankenberg (am Rednerpult) während der letzten Sitzung des Braunschweigischen Landtags. Foto: Universitätsbibliothek Braunschweig

75 Jahre Kriegs­ende, Folge 2: Schnell traten Befehl und Gehor­sams­an­spruch der Besat­zungs­macht gegenüber den gemein­samen getra­genen liberal-demokra­ti­schen Wertvor­stel­lungen zurück.

Im Zuge des politi­schen Wieder­auf­baus nach dem Zweiten Weltkrieg wurden erste beratende Organe von der briti­schen Besat­zungs­macht zugelassen. Ein Beispiel war der Landesrat, der den „Auftakt der demokra­ti­schen Selbst­er­wal­tung im Lande Braun­schweig“ darstellte. Er hatte sich am 8. Januar 1946 konsti­tu­iert und seine Aufgabe sollte sein, „ohne Rücksicht auf politi­sche Parteien, Klassen­ge­gen­sätze und beruf­liche Unter­schiede als beratende und mitver­ant­wort­liche Körper­schaft mit der Braun­schwei­gi­schen Staats­re­gie­rung zusam­men­zu­ar­beiten am Aufbau eines gesunden demokra­ti­schen Gemein­we­sens, bis die Bevöl­ke­rung Braun­schweigs sich in freier, gleicher und geheimer Wahl ihre Vertre­tung bei der Lenkung der Geschicke des Landes selbst geben kann“, schrieb die Braun­schweiger Zeitung (BZ) am 11. Januar 1946.

Vor 75 Jahren endeten der Zweite Weltkrieg und damit auch das faschis­ti­sche Terror­re­gime der Natio­nal­so­zia­listen. Die Alliierten hatten Deutsch­land befreit, in Braun­schweig waren die Ameri­kaner bereits am 12. April 1945 einmar­schiert. An dieses Ereignis erinnerte „Der Löwe – das Portal für das Braun­schwei­gi­sche“ ausführ­lich (www.der-loewe.info/12-april-1945-der-tag-der-befreiung). In dieser Serie „Braun­schwei­gi­sche Geschichte(n) Spezial: 75 Jahre Kriegs­ende“ geht es um die Zeit danach, um den demokra­ti­schen Neuanfang.

Aus allen Kreisen der Bevöl­ke­rung

Der Mitglieder des letzten Braunschweigischen Landtags im Sitzungssaal der damaligen Kant-Hochschule (heute Haus der Wissenschaft) . Foto: Universitätsbibliothek Braunschweig.
Der Mitglieder des letzten Braun­schwei­gi­schen Landtags im Sitzungs­saal der damaligen Kant-Hochschule (heute Haus der Wissen­schaft) . Foto: Univer­si­täts­bi­blio­thek Braun­schweig.

Die Mitglieder des Landes­rats waren u.a. vom Staats­mi­nis­te­rium nach Auffor­de­rung durch das für das Land Braun­schweig zustän­digen Military Govern­ment Detache­ment, (Group Captain Hicks) vorge­schlagen worden und zwar – wie vorge­schrieben – aus allen Kreisen der Bevöl­ke­rung. Minis­ter­prä­si­dent Schle­busch hatte deshalb am 19. Oktober 1945 die drei damals im Lande „identi­fi­zier­baren Parteien“ (SPD, KPD und den Demokra­ti­schen Block/Liberale) aufge­for­dert, aus dem Kreis ihrer Mitglieder fünf Vorschläge zu machen, möglichst aus verschie­denen Berufen und unter Berück­sich­ti­gung jeweils einer Frau. Schließ­lich meldete sich auch die CDU mit der Forderung, „bei der Bildung dieser Körper­schaft“ beteiligt zu werden und wurde noch berück­sich­tigt. Die CDU entwi­ckelte sich dann rasch zur führenden Partei innerhalb des bürger­li­chen Lagers. Die Militär­re­gie­rung vertraute aber den politi­schen Parteien noch keines­wegs die Rolle des einzigen Partners an, vielmehr wurden ebenfalls die Wirtschafts­kammer und die Gewerk­schaften um fünf Vorschläge aus Wirtschaft, Handel und Handwerk gebeten. Hinzu kamen je ein Vertreter der evange­li­schen und der katho­li­schen Kirche sowie ein Mitglied der Sozia­lis­ti­schen Arbei­ter­ju­gend als Jugend­ver­treter. 22 Mitglieder hatte die Liste von Hubert Schle­busch schließ­lich verzeichnet, die den Landesrat bei seiner konsti­tu­ie­renden Sitzung am 8. Januar 1946 ausmachte.

Alters­prä­si­dent Ernst Will (Präsident der Anwalts­kammer) wies bei seiner Eröff­nungs­an­sprache „auf die Bedeutung des Augen­blicks hin, in dem eine neue, wahre Demokratie in Braun­schweig beginne. Wahrheit, Gerech­tig­keit und Glauben an den Wieder­auf­stieg des deutschen Volkes seien die Wegweiser, nach denen gearbeitet werden müsse“, hieß es in der BZ.

1946 wird der Landtag genehmigt

Die Militär­re­gie­rung geneh­migte Anfang 1946 die Bildung eines Braun­schwei­gi­schen Landtags. Mit der ersten ordent­li­chen Landtags­sit­zung am 21. Februar 1946 begann in den wieder­errich­teten Verfas­sungs­or­ganen das Bemühen, einen „Weg aus Chaos und Not“ zu finden. Tatsäch­lich gelang es den unermüd­lich tätigen Mitglie­dern dieses ersten demokra­tisch verfassten Nachkriegs­land­tags, entschei­dend die Weichen für die Zukunft zu stellen, auch wenn der parla­men­ta­ri­schen und politi­schen Eigen­stän­dig­keit des Landes Braun­schweig keine lange Dauer mehr vergönnt war. Den Vorsitz im neuen „ernannten“ Landtag führte bis zum 7. Mai 1946 Hubert Schle­busch. Ihm folgten bis zum 26. Juni 1946 Alfred Kubel und schließ­lich bis zur Auflösung des Landtags am 23. November 1946 Wilhelm Rieke.

Die Arbeit war nicht leicht zu bewäl­tigen, nicht zuletzt aufgrund der massiven Einfluss­nahme der briti­schen Militär­re­gie­rung. So berich­tete die Braun­schweiger Zeitung am 23. Februar 1946 über eine Rede des Vertre­ters der Militär­re­gie­rung, Major Furminger, vor dem Braun­schwei­gi­schen Landtag, der partei­po­li­ti­sche Inter­essen anpran­gerte und die Arbeit ausschließ­lich für die Braun­schweiger Bevöl­ke­rung einfor­derte. „Major Furminger machte darauf aufmerksam, dass die Militär­re­gie­rung Mitglieder des Landtages entlassen und neue ernennen können“, schrieb die BZ. Gegen derartige Vorwürfe verwahrte sich der Landtag in einer Resolu­tion entschieden. Sein Sprecher, Alfred Kubel, betonte, dass der Landtag bereits eine Fülle prakti­scher Arbeit geleistet habe. Seit dem 7. Mai 1946 war Kubel Braun­schwei­gi­scher Minis­ter­prä­si­dent.

Affront gegen den Landtag

Einige Wochen später erlebte er einen ähnlichen Affront, als der Landtag die Verant­wor­tung für die Gesund­heit und Moral einer weiteren, 65.000 Menschen zählenden Flücht­lings­welle ablehnte, nachdem bereits 100.000 Vertrie­bene zu Jahres­an­fang einge­strömt waren. Die Militär­re­gie­rung wies diese Resolu­tion als verant­wor­tungslos entschieden zurück. Sie vermutete ein Komplott zwischen den Vertre­tern der zerbombten und notlei­denden Stadt Braun­schweig und dem Landtag, dem auch neben dem Oberbür­ger­meister mehrere städti­sche Vertreter angehörten. Die Militär­re­gie­rung sah politi­sche Gruppen am Werk, die angesichts der bevor­ste­henden Gemeinde- und Kreis­wahlen die öffent­liche Meinung anheizten, im Gegensatz zu den „sehr humanen Ansichten“ der breiten Öffent­lich­keit! Auch gegen diese Kritik verwahrte sich der Landtag ausdrück­lich und fand in der Presse tatkräf­tige Unter­stüt­zung, so dass Group Captain Hicks die Angele­gen­heit letztlich nicht weiter verfolgte.

Aller­dings darf man aus diesen Beispielen nicht auf ein allzu gespanntes Verhältnis zwischen Militär­re­gie­rung, Landtag und Stadt­ver­tre­tung schließen. Längst griffen die Vorstel­lungen der „indirect rule“ mit der doppelten Aufgabe der Umerzie­hung und des demokra­ti­schen Neuan­fangs. Je länger, desto deutli­cher traten Befehl und Gehor­sams­an­spruch der Besat­zungs­macht gegenüber den gemein­samen getra­genen liberal-demokra­ti­schen Wertvor­stel­lungen zurück, sozusagen täglich durch die Presse an eine breite Öffent­lich­keit vermit­telt.

Freie Wahlen zum Stadtrat

Diese Verän­de­rung galt auch für das Verhältnis zur Stadt­ver­tre­tung der Landes­haupt­stadt. Die ersten von der Militär­re­gie­rung ernannten Ratsherren hatten die verord­nete „Verfas­sung“ der Stadt (nach engli­schem Vorbild) am 12. Juli 1946 angenommen, die einen Oberstadt­di­rektor als Chef der Verwal­tung neben dem Oberbür­ger­meister als Vorsit­zendem des Rates vorsah (Zweiglei­sig­keit). Erster Oberstadt­di­rektor wurde Erich Walter Lotz, Oberbür­ger­meister war Dr. Ernst Böhme, dem 1949 Otto Bennemann im Amt folgte. Die ersten demokra­ti­schen Wahlen zur Stadt­ver­tre­tung fanden im Rahmen der Kreis­wahlen am 13. Oktober 1946 statt.

Prof. Dr. h.c. Gerd Biegel ist Gründungs­di­rektor des Instituts für Braun­schwei­gi­sche Regio­nal­ge­schichte und Geschichts­ver­mitt­lung an der TU Braun­schweig.

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