Die Kanonen­kugel, die wohl niemals flog

Die Eisenkugel am Dom. Foto: Peter Sierigk
Die Eisenkugel am Dom. Foto: Peter Sierigk

Der „Löwe“ startet seine neue Serie „Braun­schweigs skurrile Ecken und andere Merkwür­dig­keiten“.

Viele haben sie schon seit ihrer Kindheit als vertrauten Anblick in ihrer Erinne­rung verankert: Die Kanonen­kugel an der Ostwand des Domes, also an der Münzstraße. Darunter befindet sich in römischen Ziffern die Jahres­zahl „20. August 1615“. Das klingt ja ziemlich konkret, aller­dings sind die Erzäh­lungen, wie diese Kanonen­kugel dort hinkam, sehr abenteu­er­lich.

Die Stadt Braun­schweig wurde zu verschie­denen Zeiten immer wieder einmal von den regie­renden Welfen-Herzögen angegriffen. Das lag überwie­gend an Strei­tig­keiten mit den reichen und stolzen Patri­ziern der Stadt. Und die fühlten sich innerhalb der Braun­schweiger Stadt­mauern zu Recht sehr sicher. So auch 1615, als die Stadt mal wieder unter Beschuss lag.

Zurück also zu unserer Kanonen­kugel: Unter Herzog Friedrich-Ulrich von Braun­schweig-Wolfen­büttel (1591–1634) wurde die Stadt tatsäch­lich im Sommer 1615 belagert. Der Grund waren mal wieder finan­zi­elle Forde­rungen des Herzogs an die Stadt, die natürlich nicht zahlen wollte. Nach dreimo­na­tiger Belage­rung zog der Herzog sein Heer im September unver­rich­teter Dinge wieder ab.

Die Artil­lerie des 17. Jahrhun­derts war definitiv nicht in der Lage, von außerhalb der Stadt­mauern bis zum Dom zu feuern. Gern wird erzählt, dass die Kugel im Dom von einer Kanone auf dem Nußberg abgeschossen wurde. Die Luftlinie zwischen den beiden Punkten beträgt aber mehr als 3.000 Meter und liegt damit genauso außerhalb der Möglich­keiten wie der zweite sagen­hafte Abschuss­punkt, der Giersberg, auch wenn Einträge in Wikipedia uns etwas anders weisma­chen wollen.

In der Geschichte der Artil­lerie gibt es zwar durchaus Nachweise von Schüssen aus Distanzen bis zu 4.000 Meter, aber diese riesigen Mörser waren nicht in der Lage, genau zu treffen und gaben innerhalb eines Gefechts nur wenige Schüsse ab. Zum einen war die Qualität des Pulvers nicht ausrei­chend, und zum anderen hielten die gegos­senen Geschütz­rohre eine solche Belastung nicht lange genug aus.

Eine Darstel­lung der Beschie­ßung unserer Stadt im Jahre 1615 zeigt die Artil­lerie des Herzogs im Außenring zwischen Magnitor und St. Aegidi­entor. Auch mit sogenannten ‚Steil­schüssen‘, die in hohem Bogen aufstiegen und in die Stadt fielen, wäre die Mauer des Turmes niemals in jenem Winkel zu treffen gewesen, wie die Kugel heute im Mauerwerk steckt. Im Übrigen hatten damalige Geschosse keine „mauer­bre­chenden“ Eigen­schaften.

Im Falle unserer Kanonen­kugel gilt es aber auch noch die „Jeanne d’Arc“ von Braun­schweig zu erwähnen. Gesche Meiburg stachelte mit ihrem Mut und ihrem Kampf­geist die Braun­schweiger an, die Welfen bei einem entschei­denden Sturm­an­griff abzuschlagen. Was von ihr überlie­fert wurde, stammt von Flugblät­tern, die ihre Tat lobten.

Gut möglich, also, dass die Kanonen­kugel, die im Dom steckt, tatsäch­lich niemals geflogen ist. Sie ist mit Bestimmt­heit nachträg­lich in die Dom-Wand einge­lassen wurden, um an die Belage­rung zu erinnern. Was es genau mit dem Datum „20. August 1615“ auf sich hat, ist ebenfalls nicht überlie­fert.
Den ersten Abschnitt der Stadt­mauer hatte schon Heinrich der Löwe im Sumpf­ge­biet hinter seiner Burg errichten lassen. Ein zusätz­li­cher Wasser­graben, gefüllt mit Okerwasser, schützte die fünf Weich­bilde unserer Stadt: Altstadt, Neustadt, Hagen, Altewiek und Sack. Unter Heinrichs Sohn Otto, der als einziger Welfe Kaiser wurde und den Namen Otto IV. führte, verstärkte man die Stadt­mauern und den dazu gehörigen Mauer­graben, dessen Überreste man heute noch am Giseler Wall sehen kann.

Die Serie „Braun­schweigs skurrile Ecken und andere Merkwür­dig­keiten“ erscheint einmal monatlich mit einer neuen Geschichte spannender Heimat­kunde.

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