Das Zeug zum Weltkul­tur­erbe ist vorhanden

Eine historische Ansicht des Burgplatzes. Repro: IBR
Eine historische Ansicht des Burgplatzes. Repro: IBR

Die Initia­tive 1995 schei­terte, weil Politik und Denkmal­pflege in Hannover kein Interesse an einer Strahl­kraft­er­hö­hung Braun­schweigs hatten.

Betrachtet man mittel­al­ter­liche Stadt­en­sem­bles, die als heraus­ge­ho­bene Beispiele kultu­rellen Erbes gewürdigt werden, so zählt Braun­schweig spontan empfunden sicher­lich nicht in den Kandi­da­ten­kreis. Dazu bedarf es zunächst der Erinne­rung und des histo­ri­schen Rückblicks, um eine Bedeu­tungs­er­hö­hung nachvoll­ziehen zu können. Dabei geht es nicht um nostal­gisch verklärte Träume­reien aus der Provinz, sondern um histo­ri­sche Fakten zur Entwick­lung einer wirkungs­mäch­tigen Stadt seit dem Mittel­alter.

Prototyp fürst­li­chen Residenz­bil­dung

Braun­schweig, die Penta­polis an der Oker, war damals die einzige Großstadt im nieder­säch­si­schen Raum, bestimmt von fürst­li­chem Herrschafts­an­spruch unter Kaiser Lothar III., Welfen­herzog Heinrich dem Löwen und Kaiser Otto IV. auf der einen Seite und einem zunehmend selbst­be­wussten sowie wirtschaft­lich starken Bürgertum auf der anderen Seite. Heinrich der Löwen, der im Herzen der Stadt eine beein­dru­ckende Pfalz­an­lage nach dem Vorbild des Goslarer Königs­hauses errichten ließ, entwi­ckelte mit diesem neuen welfi­schen Memori­alort zugleich Braun­schweig als Prototyp der fürst­li­chen Residenz­bil­dung im mittel­al­ter­li­chen Reich. Weltliche Residenzen in zentraler städti­scher Lage sind äußerst selten. In hochmit­tel­al­ter­li­cher Zeit ist sie für die einstige Pfalz Karls des Großen in Aachen gegeben und im ausge­henden Mittel­alter wäre das burgar­tige Schloss der Este zu nennen, das aufgrund später Stadt­er­wei­te­rungen ins Stadt­zen­trum rückte. Die Einzig­ar­tig­keit der Braun­schweiger Anlage wurde noch dadurch betont, dass Heinrich der Löwe im Umfeld noch drei Teilstädte anlegte.

Fotomotiv für eine Postkarte aus Braunschweig. Repro: IBR
Fotomotiv für eine Postkarte aus Braun­schweig. Repro: IBR

Die weitere Stadt­ent­wick­lung als Hanse­stadt, Wirtschafts­me­tro­pole und wieder Residenz­stadt seit Herzog Carl I. hat sich in der Erinne­rung des Stadt­bilds vor allem als prägende Fachwerk­stadt in Deutsch­land bewahrt, während in der Realität im Feuer­sturm alliierter Bomben am 14./15. Oktober 1944 zu mehr als 80 Prozent die Innen­stadt in Schutt und Asche zerfiel. Geschicht­liche Momente in der Archi­tektur hat Landes­kon­ser­vator Dr. Kurt Seeleke durch das Konzept der Tradi­ti­ons­in­seln anschau­lich erhalten. Und im Herzen lag eben, weitge­hend unzer­stört und eine einzig­ar­tige Konti­nuität bewahrend der Braun­schweiger Burgplatz.

Rom und Venedig vergleichbar

Vergleich­bare zentrale Platz­an­lagen wären etwa der Domplatz in Köln, die Piazza Navona in Rom oder der Markus­platz in Venedig. Viele weitere Beispiele wären zu nennen, urbane Zentren, belebt, rege genutzt und jederzeit identi­täts­stif­tend für die Städte und ihre Bürger­schaft. Weitaus zurück­hal­tender bleibt dabei die Bewertung des urbanen Ensembles am Braun­schweiger Burgplatz, auch wenn der 1896 neu gegrün­dete Verein zur Hebung Braun­schweigs und seines Fremden­ver­kehrs verkün­dete: Braun­schweig sei die anerkannt schönste und sehens­wer­teste Stadt Norddeutsch­lands.

Hätte es damals bereits das Welterbe-Gütesiegel gegeben, hätte die Residenz­stadt Braun­schweig mit Burgplatz und Residenz­schloss, dem vorbild­li­chen Neubau des Herzog­li­chen Museums, dem Histo­ris­mus­ensemble um Rathaus, Landge­richt und Staats­mi­nis­te­rium, dem Neubau der Techni­schen Hochschule und den beein­dru­ckenden Wallan­lagen aus Krahes Zeiten als Gesamt­ensemble, sicher­lich große Chancen gehabt.

Selbst­be­wusst ins Welterbe-Rennen

Eine besondere Aufnahme: alles auf einen Blick. Foto: IBR
Eine besondere Aufnahme: alles auf einen Blick. Foto: IBR

Braun­schweig aber hat keinen Grund, nicht selbst­be­wusst in ein solches Unesco-Welterbe-Rennen zu gehen, das hatten wir uns, Joachim Hempel für den Dom und Gerd Biegel für das Braun­schwei­gi­sche Landes­mu­seum, im Jahr 1995 überlegt, nachdem die Heinrich-Ausstel­lung die Faszi­na­tion und Anzie­hungs­kraft des Burgplatzes und seine anlie­genden Ausstel­lungs­räume (Dom, Burg Dankwar­derode und Vieweg­haus) aufge­zeigt hatte. Wir wussten, es wird ein steiniger und mühsamer Weg, im Kampf mit Unver­ständnis, politi­schem Unwillen, Häme und Unwis­sen­heit.

Aber wir waren gestartet, hatten die Mitstreiter am Burgplatz schnell im Boot und gemeinsam haben wir Schritt für Schritt die Idee im Interesse von Braun­schweig von der Kanzel, vom Vortrags­pult und bei Führungen der Öffent­lich­keit näher­ge­bracht. Ein kleiner Gradmesser waren eine Telefon­um­frage gemeinsam mit der Braun­schweiger Zeitung, die eine Zustim­mungs­quote von 78,2 Prozent ergab und eine Unter­schrif­ten­samm­lung zugunsten unserer Absicht, den begehrten Titel zu beantragen. Am Ende konnten wir rund 35 000 Unter­schriften der Stadt Braun­schweig als Motiva­ti­ons­schub übergeben.

Gesamt­kon­text der Anlage begreifen

Es gab uns damals Mut, wohlwis­send, dass Politik und Denkmal­pflege in Hannover kein Interesse an einer solchen Strahl­kraft­er­hö­hung Braun­schweigs hatten. Eine Reaktion als Beispiel: Kirchen haben wir genug! Na klar, wenn man bewusst nicht begreifen wollte, worum es uns ging, dann stimmte diese Aussage sogar. Aber es war eben in doppelter Hinsicht keine Frage ästhe­ti­scher Anschauung oder Archi­tektur eines Domes, sondern es galt, den Gesamt­kon­text der Anlage und ihrer histo­ri­schen Dimension zu betrachten (oder zu begreifen). In keinem vergleich­baren städti­schen Zentral­platz ist mit einem Dom als Schatz­kammer mit sieben­ar­migem Leuchter, Imervard­kreuz, Grabmal Heinrichs und Mathildes sowie mittel­al­ter­li­cher Ausmalung zugleich der einzig­ar­tige Ausgangs­punkt mittel­al­ter­li­cher Residenz­bil­dung vergleichbar verbunden mit einem Querschnitt durch die wichtigsten histo­ri­schen Epochen der Stadt- und Landes­ge­schichte.

Ein einzig­ar­tiges Schich­ten­profil

Es ist ein einzig­ar­tiges mit den Füßen erfahr­bares Geschichts­buch: Der Dom St. Blasii steht für das Hochmit­tel­alter und die Romanik sowie das Veltheim­sche Palais für Spätmit­tel­alter, Hofadel und Fachwerkbau. Dompre­di­ger­haus und Vieweg­haus kennzeichnen die Glanzepoche des späten 18. Jahrhun­derts mit Spätauf­klä­rung und Klassi­zismus, die Burg Dankwar­derode steht für das 19. Jahrhun­dert und den Histo­rismus auf den origi­nalen Grund­mauern der Pfalz Heinrichs des Löwen, das Deutsche Haus charak­te­ri­siert Gründer­zeit und Indus­tria­li­sie­rung, Hunebors­tel­sches Haus und Kemenate sind als frühe Denkmal­bei­spiele Reminis­zenzen an die mittel­al­ter­liche Geschichte. Die gepflas­terte Platz­ge­stal­tung des Burgplatzes steht für die Umgestal­tung in den 1930er Jahren. Mit dieser, offenbar schwer nachvoll­zieh­baren histo­ri­schen Erkenntnis für Kunst­his­to­riker, ist der Burgplatz ein einzig­ar­tiges Schich­ten­profil der braun­schwei­gi­schen und europäi­schen Geschichte. Hinzu kommen die heraus­ra­genden Kunst­schätze im Dom und der Mittel­al­ter­ab­tei­lung des Herzog Anton Ulrich-Museums sowie der Braun­schweiger Burglöwe. Gegenüber den histo­ri­schen „neuen“ Zentren Schloss­platz und Altstadt­markt – Residenz und Bürger­zen­trum – ist der Burgplatz nicht nur eine kultu­relle Insel, sondern dient als Binde­glied und Drehscheibe zugleich der Gesamt­stadt von einzig­ar­tiger Bedeutung.

Das beeindruckende Ensemble aus der Luft. Foto: IBR/Dieter Heitefuß
Das beein­dru­ckende Ensemble aus der Luft. Foto: IBR/Dieter Heitefuß

2004 wurde erneut ein Versuch gestartet, diesmal nur für die heraus­ra­gende Bedeutung des Braun­schweiger Doms. Die Bemühungen werden nicht enden, ebenso wenig meine Überzeu­gung, dass Dom und Burgplatz in Braun­schweig, gemessen an anderen ausge­wählten Beispielen in Deutsch­land, diesen Bemühungen gerecht werden kann, man muss die kultur­his­to­ri­sche Kernbe­deu­tung nur erkennen bezie­hungs­weise erkennen wollen.

Prof. Dr. h.c. Gerd Biegel, M.A. ist Gründungs­di­rektor des Instituts für Braun­schwei­gi­sche Regio­nal­ge­schichte und Geschichts­ver­mitt­lung, TU Braun­schweig.

Der Beitrag erschien zuerst in der Herbst­aus­gabe 2020 des Magazins Viervier­tel­kult der Stiftung Braun­schwei­gi­scher Kultur­be­sitz.

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