Countdown gegen die Geschichts­ver­ges­sen­heit

Historiker Prof. Dr. Thomas Vogtherr (Osnabrück) ordnete in seinem Vortrag Braunschweigs Bedeutung im überregionalen Kontext ein. Foto: Meike Buck
Historiker Prof. Dr. Thomas Vogtherr (Osnabrück) ordnete in seinem Vortrag Braunschweigs Bedeutung im überregionalen Kontext ein. Foto: Meike Buck

1000 Jahre Braun­schweig: neues, zeitge­mäßes Bild der Stadt­ge­schichte in Planung.

2031 jährt sich die erste urkund­liche Erwähnung Braun­schweigs zum 1000sten Mal – Anlass für das Stadt­ar­chiv Braun­schweig, eine Tagung zum Auftakt der „Stadt­ge­schichts­de­kade“ durch­zu­führen. In der Dornse des Altstadt­rat­hauses disku­tierten renom­mierte Histo­ri­ke­rinnen und Histo­riker verschie­dener Fachrich­tungen zum Stand der Stadt­ge­schichts­for­schung und neuen Perspek­tiven.

Die Stadt Braun­schweig habe sich entschlossen, das 1000ste Jubiläum der Ersterwäh­nung zu nutzen, um sich in den nächsten zehn Jahren verstärkt der Geschichte der Stadt und seiner Bewohner zu widmen und ein neues, zeitge­mäßes Bild der Stadt­ge­schichte zu entwerfen, kündigte Oberbür­ger­meister Ulrich Markurth bei seiner Begrüßung an.

Ziel ist es, zum Stadt­ju­bi­läum eine neue Stadt­ge­schichte vorzu­legen, die bis heute immer wieder schmerz­lich vermisst wird. Um der histo­ri­schen Bedeutung Braun­schweigs und des Vorhabens, dem Anspruch an Qualität und Diffe­ren­ziert­heit gerecht zu werden, ist die Tagung als Auftakt zu sehen für neue Forschungen und Quellen­stu­dien. Sie sollte Bilanz ziehen und neuen Forschungs­per­spek­tiven den Weg bereiten.

1000 Jahre – zum zweiten Mal

Dass 1861 die stolze Bürger­schaft bereits einmal 1000 Jahre feierte, ist aus heutiger Sicht eine Fehlin­ter­pre­ta­tion der Quellen, als man sich auf das in der mittel­al­ter­li­chen Überlie­fe­rung genannte Datum 861 der Gründung der Burg Dankwar­derode stützte. Das Datum ließ sich zwar nicht mit Quellen belegen, führte aber u.a. zur Gründung der Städti­schen Sammlungen, aus denen später die Stadt­bi­blio­thek, das Städti­sche Museum und das Stadt­ar­chiv hervor­gingen – in letzterem wird die Gründungs­ur­kunde der Magni­kirche verwahrt, die nun der Anlass für die „zweite“ 1000-Jahr-Feier ist.

Henning Stein­führer, Direktor des Stadt­ar­chivs Braun­schweig und Initiator und Organi­sator der Tagung, stellte die Perga­men­tur­kunde ausführ­lich vor. Bei der Weihe­n­otiz des Halber­städter Bischofs Branthago für die Kirche St. Magni aus dem Jahr 1031 handelt es sich um die älteste Urkunde des Braun­schweiger Stadt­ar­chivs. Dabei gab es spannende Details zur Schrift, zur Formu­lie­rung der Urkunde, zu den Schrei­bern, zum Siegel und zur Geschichte der Urkunde zu erfahren. Diese erste Erwähnung bedeutet freilich nicht, dass vor 1031 keine Siedlungs­tä­tig­keit an der Oker statt­ge­funden habe, wie archäo­lo­gi­sche Funde immer wieder beweisen.

Forschungs­lü­cken entdecken

Drei Vorträge – Von der Stadt­wer­dung bis zum Ende der Stadt­frei­heit 1671 (Henning Stein­führer, Braun­schweig), Die Residenz­stadt bis 1918 (Brage Bei der Wieden, Wolfen­büttel) und Von der Haupt­stadt des Freistaats Braun­schweig zum regio­nalen Oberzen­trum im 21. Jahrhun­dert (Gudrun Fiedler, Stade) beleuch­teten drei wesent­liche Epochen der Stadt­ge­schichte. Jeweils zwei Kommentatoren/Kommentatorinnen wiesen auf Forschungs­lü­cken und Leerstellen hin, formu­lierten inter­es­sante Frage­stel­lungen und Defizite und regten neue Perspek­tiven an. Zehn Jahre Vorbe­rei­tungs­zeit für das Stadt­ju­bi­läum sind unter diesem Aspekt keines­wegs zu lang, wenn neue Quellen ausge­wertet und bekannte neu inter­pre­tiert werden sollen.

Obwohl zwei Verluste – der der Unabhän­gig­keit der Stadt 1671 (Philip Haas, Wolfen­büttel) und der der Haupt­stadt­funk­tion 1946 (Thomas Kubetzky, Braun­schweig) als ausge­wählte Aspekte der Stadt­ge­schichte ausführ­lich dargelegt wurden, ging es dabei nicht um die Kulti­vie­rung eines tatsäch­li­chen oder gefühlten Verlust­schmerzes, sondern um Gründe und Wirkung von derar­tigen Ereig­nissen in der Stadt­ge­schichte.

Im überre­gio­nalen Kontext

Zum Abend­vor­trag begrüßte Anja Hesse, Kultur­de­zer­nentin der Stadt Braun­schweig, den Histo­riker Thomas Vogtherr (Osnabrück), der die Rolle und Bedeutung der Stadt Braun­schweig in regio­nalen und überre­gio­nalen Kontexten aus der Sicht eines Landes­his­to­ri­kers betrach­tete. Er ging dabei der Frage nach, was an der Geschichte Braun­schweigs typisch und welche Entwick­lungen vergleichbar mit anderen Städten abliefen, und welche Ereig­nisse einzig­artig und heraus­ra­gend gewesen waren.

So eröffnete die Eigen­stän­dig­keit, die Braun­schweig im Mittel­alter trotz seiner Funktion als Residenz­stadt behaup­tete, die Möglich­keit, sich in viele regionale und überre­gio­nale Verbin­dungen einzu­bringen. Zwar schei­terten Versuche, zur Reichs­stadt aufzu­steigen, aber sie zeigten, wie besonders die Stadt wahrge­nommen wurde – auch von ihren Gegnern. Auch Jahrhun­derte später, als Braun­schweig Haupt­stadt eines eigen­stän­digen Freistaates war, prägen die Jahre von 1918 an eine bis heute vorhan­dene Vorstel­lung von den Möglich­keiten der Selbst­be­haup­tung und der Eigen­stän­dig­keit. Vogtherr regt an, verglei­chend zu arbeiten und histo­risch einander ähnliche oder vonein­ander unter­scheid­bare Kriterien zu entwi­ckeln und zu analy­sieren. Dies helfe auch dabei, Eigen­tüm­lich­keiten zu überwinden und im vermeid­li­chen Beson­deren der eigenen Stadt doch etwas Allge­mein­gül­tiges zu entdecken, aber auch, das Besondere dort zu sehen, wo man bisher noch nicht einmal gesucht habe. So kann Braun­schweig beispiel­haft für die Erfor­schung moderner Großstadt­ge­schichte wirken

Neue Perspek­tiven

Jochen Oltmer (Osnabrück), Ansgar Schan­ba­cher (Göttingen) und Franziska Neumann (Rostock/Braunschweig) formu­lierten neue Perspek­tiven, die für die Braun­schweiger Geschichte wichtig sein könnten. Der Begriff der „Migration“ hat in den vergan­genen Jahren an Relevanz gewonnen, dabei sind Fragen nach der Freiwil­lig­keit bzw. Unfrei­wil­lig­keit der Migration, der Mobilität bzw. Immobi­lität ebenso zu beachten wie die Sicht­weise aller sozialen Geschichten und die Betrach­tung der Stadt nicht nur unter dem Blick­winkel derer, die sie verlassen, sondern auch von denen, die dort ankommen.

Auch die Wechsel­wir­kung zwischen Mensch und Umwelt, die Klima­ge­schichte, hat großes Potential und könnte Beiträge zur Lösung von aktuellen Problemen liefern. Dabei ist die Stadt nicht abgeschlossen von ihrer Umwelt, sie prägt die Landschaft, dehnt sich ins Umland aus. Dabei sind Fragen zur Klima­ge­schichte und Wetter­be­ob­ach­tungen ebenso zu stellen wie zur Müllent­sor­gung und Nahrungs­zu­fuhr und zu Gefahren und Natur­ka­ta­stro­phen. Die dritte Perspek­tive nimmt das Verhältnis der Geschlechter zuein­ander in den Blick. Dabei geht es u.a. um Alltags­er­fah­rungen, Sexua­li­täts­ge­schichte, aber auch um ungewöhn­liche Orte in der Stadt und eine neue Auswer­tung der Quellen unter einer weibli­chen Perspek­tive.

Verständ­liche Forschungs­er­geb­nisse

„Jubiläen haben einen Logen­platz im Geschichts­ver­ständnis“, zitierte Tobias Henkel, Direktor der Stiftung Braun­schwei­gi­scher Kultur­be­sitz, den Histo­riker Martin Sabrow in seinem Schluss­wort. So sei das 1000jährige Jubiläum der Stadt Braun­schweig auch die Chance, einen Perspek­tiv­wechsel in der Geschichts­er­zäh­lung vorzu­nehmen, sie neu zu ordnen und zu justieren. 1000 Jahre sind ein würdiger Anlass zu feiern, sie sind Gelegen­heit und Verpflich­tung zugleich. Dabei sollte es nicht um die Frage gehen, wie viele Bände eine Stadt­ge­schichte braucht, um den 1000 Jahren würdig zu sein, sondern darum, ein Ausgangs­punkt für einen neuen Blick zu sein auf die Geschichte.

Zugleich mahnt er, mit wachsamem Auge darauf zu achten, dass sich die Histo­riker nicht zu weit von ihrem Publikum entfernen. Die Frage, was sie denen zu bieten haben, für die sie ihre Forschung tun und denen sie ihre Ergeb­nisse zur Verfügung stellen, ist u.a. damit zu beant­worten, dass sie imstande sein müssen, den Braun­schwei­ge­rinnen und Braun­schwei­gern zu zeigen, wie ihre Stadt geworden ist – auch denen, die nicht dort geboren und aufge­wachsen sind.

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