Malerei in Musik übersetzt

Die Furtwängler & Hammer-Orgel im Kaiserdom Königslutter. Foto: Andreas Greinre-Napp/SBK.
Die Furtwängler & Hammer-Orgel im Kaiserdom Königslutter. Foto: Andreas Greinre-Napp/SBK.

Impro­vi­sieren, das Spielen ohne auskom­po­nierte Noten, ist eine besondere Heraus­for­de­rung für jeden Musiker. Eine neue CD versam­melt nun Aufnahmen, die im Rahmen der Inter­na­tio­nalen Orgel­wo­chen an der Furtwängler & Hammer-Orgel im Kaiserdom Königs­lutter entstanden sind, darunter von dem weltbe­kannten Pariser Organisten Pierre Pince­maille, der 2018 verstorben ist.

Seit 2011 lädt die Stiftung Braun­schwei­gi­scher Kultur­be­sitz in Koope­ra­tion mit dem Berliner Dom und der evange­lisch-luthe­ri­schen Landes­kirche in Braun­schweig jedes Jahr bekannte Organisten ein, die histo­ri­sche Orgel des Kaiser­doms in Königs­lutter zu bespielen. Nicht nur die Orgel von 1892 ist, besonders nach ihrer Restau­rie­rung im Jahr 2010, ein beson­deres Klang­er­lebnis. Die Farbaus­ma­lung des Domes, die August von Essenwein Ende des 19. Jahrhun­derts ganz im Stil des Histo­rismus konzi­pierte, verbindet sich mit dem romani­schen Raum zu einem einzig­ar­tigen baulichen Ensemble. Das Bildpro­gramm überzieht Gewölbe und Fußböden, Altäre und Kanzeln, Möbel und Fenster. Es sollte, nach Essen­weins Verständnis, rein dienenden Funktion haben ohne eine eigene Handschrift – parado­xer­weise hat sie gerade dadurch einen beson­deren Charakter und wird als eigen­stän­diges Kunstwerk des Histo­rismus erkannt. Der Kaiserdom ist das einzige komplett erhaltene Werk von Essenwein.

Musik „vom leeren Blatt“

Bei der Ausmalung des Innen­raumes orien­tierte sich Essenwein an den mittel­al­ter­li­chen Fassungen des Domes. Als Fortset­zung dieses Konzeptes werden immer wieder Gastor­ga­nisten der Orgel­wo­chen gebeten, über Motive der Ausmalung zu impro­vi­sieren. Im Gegensatz zur streng geplanten und durch­kom­po­nierten Ausmalung des Domin­nen­raumes lebt die Impro­vi­sa­tion von der Sponta­nität und dem Ideen­reichtum der Musike­rinnen und Musiker, die vom „leeren Blatt“ spielen, geschaffen aus dem Augen­blick für den Augen­blick. Die Kunst, Musik spontan erst beim Spielen entstehen zu lassen, hat eine lange Tradition, besonders in der Orgel­musik. Die litur­gi­sche und zeremo­ni­elle Gebrauchs­musik in den Kirchen und Klöstern war meistens impro­vi­siert, der Organist spielte sie zu einem vorge­ge­benen Thema, z.B. einer Choral­me­lodie. Besonders in Frank­reich hat die Technik der Impro­vi­sa­tion eine lange und bis heute gelebte Tradition.

Ein Altmeister…

Mit Pierre Pince­maille ist auf der CD ein inter­na­tional bekannter Organist vertreten, der 2010 zu Gast in Königs­lutter war. Pince­maille erhielt seine musika­li­sche Ausbil­dung am Conser­va­toire National Supérieur de Musique de Paris, seit 1987 war er Haupt­or­ga­nist an der Kathe­drale von St. Denis, wo er die weltbe­kannte Orgel des berühmten Orgel­bauers Aristide Cavaillé-Coll von 1841 spielte. Neben zahlrei­chen Impro­vi­sa­tions-CDs spielte er Duruflés und Francks Gesamt­werk, Widors Sympho­nien, Strawinsky-Transkrip­tionen sowie Werke von Vierne, Alain und Cochereau ein. Ab 2005 unter­rich­tete er am Conser­va­toire National Supérieur de Musique de Paris. 2018 verstarb Pince­maille im Alter von 61 Jahren.

… und zwei junge Musiker

Neben dem Altmeister sind mit Thomas Ospital und Frédéric Blanc zwei aufstre­bende Musiker zu hören. Der baskische Organist Ospital ist ungeachtet seines jungen Alters bereits Gewinner zahlrei­cher Wettbe­werbe und Preis­träger. Im März 2015 wurde er zum Titular­or­ga­nisten an der großen Orgel von Saint-Eustache in Paris ernannt. 2016 lud ihn die Maison de la Radio in Paris ein, erster organiste en résidence an der neuen Orgel der Firma Grenzing zu werden. Die Impro­vi­sa­tion nimmt in Ospitals musika­li­schen Praxis einen breiten Raum ein, so widmet er sich zum Beispiel intensiv der Beglei­tung von Stumm­filmen. Auch Frédéric Blanc impro­vi­sierte bereits in jungen Jahren autodi­dak­tisch am Klavier und an der Orgel. Nach seinem Studium begann er eine inter­na­tio­nale Karriere als Konzert­or­ga­nist, Impro­vi­sator und Pädagoge, die ihn in fast alle europäi­schen Länder und die USA führte, wo er regel­mäßig an den bedeu­tendsten Univer­si­täten zu Meister­kursen einge­laden wird. Seit 1999 ist Frédéric Blanc Titular­or­ga­nist an der Kirche Notre-Dame d’Auteuil in Paris an einer der schönsten sympho­ni­schen Orgeln der Haupt­stadt.

Verbin­dung von Musik und Malerei

Heraus­ge­kommen sind dabei – so muss es sein, schließ­lich sind es Impro­vi­sa­tionen – einzig­ar­tige Aufnahmen, die die Indivi­dua­lität und das musika­li­sche Können der Organisten zeigen. Beim Hören entstehen Essen­weins Motive wie die vier Elemente vor dem inneren Auge neu: die Erde mit schweren, tiefen Tönen, perlende Tonkas­kaden formen sich zu frischem Wasser, die Luft flirrt mit hohen Flöten­tönen und das Feuer, das sich aus einer leise schwe­lenden Glut zu wild lodernden Flammen in Tonclus­tern entwi­ckelte. Und zum Schluss, ein wenig heroisch Christus, in Königs­lutter in der Apsis thronend als Welten­richter, der auf die Gläubigen blickt, der mit einem Versöh­nung und Vergebung verspre­chend Dur-Akkord schließt. Die histo­ris­ti­sche Ausmalung des Domes ist bis in jedes Detail durch­kon­zi­piert und ausge­ar­beitet, die Impro­vi­sa­tionen spontan aus dem Moment entstanden. Beide, Malerei und Musik, berühren durch ihre Inten­sität und Kraft und die Leiden­schaft der Künstler und ihre Ausdrucks­stärke.

Fakten

CD: Inter­na­tio­nale Orgel­wo­chen Königs­lutter
Impro­vi­sa­tionen von Thomas Ospital, Frédéric Blanc, Pierre Pince­maille
Erhält­lich bei der Stiftung Braun­schwei­gi­scher Kultur­be­sitz www.sbk-bs.de
Kosten 15 Euro

Fotos

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