Braun­schwei­gi­sche Synode nahm Wächteramt nicht immer wahr

Gruppenfoto ohne Frauen. Mitglieder der Landessynode 1962 vor dem Tagungszentrum Hessenkopf (Goslar). Foto: Archiv Dietrich Kuessner
Gruppenfoto ohne Frauen. Mitglieder der Landessynode 1962 vor dem Tagungszentrum Hessenkopf (Goslar). Foto: Archiv Dietrich Kuessner

Die Landes­synode wurde in 150 Jahren allmäh­lich zu einem demokra­ti­schen Kirchen­par­la­ment. Der Histo­riker Dietrich Kuessner legt zwei Bücher vor.

1869 — die Geburts­stunde der Braun­schwei­gi­schen Landes­synode. Ein zartes Pflänz­chen der Demokratie innerhalb der evange­li­schen Kirche, das sich über alle Durst­stre­cken und Wirren behaup­tete. Der Kirchen­his­to­riker Dietrich Kuessner hat die Geschichte dieses Kirchen­par­la­mentes nach jahre­langen Recher­chen in zwei Bände gepackt.

Es ist ja, was 1869 angeht, ein noch wichti­geres Ereignis zu nennen: In Eisenach war am 7. August der Gründungs­kon­gress der Sozial­de­mo­kra­ti­schen Arbei­ter­partei, aus der später die SPD hervor­ging. August Bebel wurde in Eisenach zum Vorsit­zenden gewählt. Und auch in Braun­schweig stutzte man: Was braut sich denn da zusammen? Es waren bewegte Zeiten.

Logo Braunschweiger ZeitungDieser Artikel ist zuerst erschienen am 26.09.2019 (Bezahl-Artikel)

Frage: Was hatte damals die Synode eigent­lich zu melden? Aus der Sicht jener, die keine Macht abgeben wollten, möglichst wenig. Der Kirchen­kom­missar und Minister für Inneres und Kultur formu­lierte bei der Eröffnung der Synode folgenden frommen Wunsch: „Möchten unsere Beratungen uns hierin einig und einmütig zugleich in der Zuver­sicht finden, dass die hochwür­dige Vorsynode, indem sie annimmt, was ihr das Kirchen­re­gi­ment entge­gen­trägt, der Kirche einen Dienst erweist, aus dem ihr Heil und Segen erblüht.“

1869 war der inner­kirch­liche Reform­be­darf ungeheuer. Da gab es dieses starke Einkom­mens­ge­fälle innerhalb der Pfarrer­schaft und eine unbefrie­di­gende Ruhestands­re­ge­lung. Ein Pfarrer blieb im Dienst, bis er tot umfiel. Wenn er nicht mehr konnte, musste er einen jungen Pfarrer anstellen und aus eigener Tasche bezahlen. Und wenn ein Mensch starb, war die vornehmste Pflicht des Pfarrers nicht, Worte des Trostes am Grab zu sagen. Kuessner: „Die seelsor­ger­liche Aufgabe des Pastors lag vielmehr am Bett des Dahin­ster­benden, und zwar darin, die von Versu­chungen des Teufels bedrohte Seele aus seinem Rachen durch fortwäh­rende Gebete zu reißen.“

Kuessner mutet uns über viele Seiten eine enorme Fakten­dichte zu. Gut für Wissen­schaftler, die später mal weiter­for­schen wollen, ermüdend für jene, die einfach nur wissen wollen: Wann kommt der nächste Konflikt? Ohne Ausein­an­der­set­zung und Streit keine Verän­de­rung hin zu mehr inner­kirch­li­cher Demokratie.

Was uns heute wundern muss: Erst 1873 wurde der Taufzwang aufge­hoben. Und Paare konnten seitdem ihre Ehe vor dem Standesamt schließen. Ein Ja-Wort noch in der Kirche wurde nicht mehr verlangt. Wundern muss uns ferner, dass die Landes­synode über viele Jahrzehnte hinweg eine reine Männer­ge­sell­schaft war. Frauen hatten nach deren Sicht ihren festen Platz in der Familie und sollten durch Frömmig­keit vorbild­lich wirken.

Und was wurde in der NS-Zeit aus der Landes­synode? Laut Kuessner unterwarf sich die Synode, gedrängt durch Oberkir­chenrat Dr. Breust, in der Sitzung am 1. Juni 1934 förmlich dem deutsch-christ­li­chen Reichs­bi­schof Müller. Die Auflösung der Landes­synode folgte 1935.

1946 der Neuanfang. Es war, wie wir beim Autor lesen, kein demokra­ti­scher Frühling: „Die Wieder­be­le­bung der Landes­synode diente vor allem dem Macht­er­halt der alten, belas­teten Eliten, eine Gemein­schaft der sich selbst recht­fer­ti­genden Mitwisser.“ Mehr schmun­zelnd erzählte man sich, wie einst unter dem Talar von Oberlan­des­kir­chenrat Röpke braune SA-Hosen hervor­guckten.

Der frühere Braun­schweiger Sonder­richter Dr. Walter Lerche, nach heutigem Wissens­stand an 59 Todes­ur­teilen gegen Zwangs­ar­beiter und „Volks­schäd­linge“ beteiligt, machte wieder Karriere, wurde Oberlan­des­kir­chenrat. Es fehlte damals einfach das Bewusst­sein des in der NS-Zeit gesche­henen furcht­baren Unrechts.

Zu einer demokra­ti­schen Belebung der Synode kam es nach Jahren der Stagna­tion, in der die Synode vor allem dankbar empfing, was ihr an Vorlagen aus dem Landes­kir­chenamt präsen­tiert wurde, erst nach 1970. Der Arbeits­kreis „Solida­ri­sche Kirche“ forderte in stürmi­scher Weise von der Landes­kirche Reformen. Eine Frucht war die mehrtä­gige Reform­synode im Sommer 1995.

Eine reich­hal­tige Darstel­lung der Geschichte der Landes­synode. Und es gibt erste Stimmen von Theologen, die Kuessners druck­fri­sche Bände gelesen haben. Eine sei heraus­ge­hoben, die von Pfarrer Dieter Rammler, Direktor des Theolo­gi­schen Zentrums: „Kuessners Geschichte zeigt eines eindrucks­voll auf: Das Kirchen­par­la­ment ist nur so wirkungs­voll, wie seine Reprä­sen­tanten sich engagieren und dabei nicht nur eigene Gemein­deinter­essen, sondern das Ganze der Kirche vertreten. Dazu gehört heute auch ein Wächteramt gegenüber allen autori­tären und populis­ti­schen Tendenzen in Kirche und Gesell­schaft.“

Buchvor­stel­lung

Der Kirchen­his­to­riker Dietrich Kuessner stellt seine beiden Bände „Über die Geschichte der Braun­schweiger Landes­synode“ öffent­licham Montag, 30. September, 19 Uhr, im Theolo­gi­schen Zentrum, Alter Zeughof 2/3, in Braun­schweig vor. Kuessner referiert zum Thema „Kirche und Demokratie — auf dem Weg zur ersten Landes­synode“. Eintritt frei. Die beiden Bände sind für 10 Euro Schutz­ge­bühr zu erwerben, erstmals im Anschluss an die Veran­stal­tung am Montag und später in der Biblio­thek des Theolo­gi­schen Zentrums.

Die Landes­synode ist neben der Kirchen­re­gie­rung, dem Landes­bi­schof und dem Kollegium des Landes­kir­chen­amtes das vierte Leitungs­organ der Landes­kirche Braun­schweig. Sie besteht aus gewählten und berufenen Kirchen­mit­glie­dern. Sie hat die Gesetz­ge­bungs­kom­pe­tenz sowie die Beschluss­ho­heit über die Einfüh­rung und Änderung von Gottes­dienst­ord­nungen, Gesang­bü­chern und Ordnungen des kirch­li­chen Lebens. Außerdem hat sie die Finanz­ho­heit einschließ­lich der Haushalts­pla­nung. Die Landes­synode wird alle sechs Jahre zum 1. Januar neu gebildet. Die Amtszeit der gegen­wär­tigen Landes­synode endet am 31. Dezember 2019.

Logo Braunschweiger ZeitungDieser Artikel ist zuerst erschienen am 26.09.2019 und erreichbar unter: https://www.braunschweiger-zeitung.de/region/article227204707/Braunschweigische-Synode-nahm-Waechteramt-nicht-immer-wahr.html (Bezahl-Artikel)

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