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Von Oral-History bis Karl Marx

Der Platz für Heimatforschung in Bornum: die Lindenstube. Foto: meyermedia
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Der 1985 gegründete Geschichtsfreunde Bornum e.V. „Dä Born“ besitzt ein großes Archiv mit rund 13.000 Fotoaufnahmen und Abbildungen. Es beweist, dass im kleinen Dorf am Elm Vorfahren berühmter Deutscher lebten.

Der Autor Jörg Bremer würde bei einem Besuch in Bornum am Elm garantiert nicht willkommen geheißen. Denn in seinem Buch „Beidseits der Reichsstraße 1“ schrieb Bremer vor einigen Jahren sinngemäß: „In Bornum ist geschichtlich nichts los“. Vor allem die Mitglieder des Geschichtsfreunde Bornum e.V. haben dies durch intensive Heimatforschung widerlegt. Der weltberühmte Gesellschaftstheoretiker Karl Marx und der nicht weniger bekannte Maler Max Beckmann haben enge familiäre Beziehungen zum am westlichen Rand des Landkreises Helmstedt gelegenen Ort. Beckmanns Groß- und Urgroßmutter wohnten dort. Und Marx` Schwiegervater, der preußische Regierungsrat Johann Ludwig von Westphalen. Jedoch waren dies längst nicht alle Promis.

„Gemessen an der Einwohnerzahl sind wir einer der größten Geschichtsvereine in Deutschland“, berichtet Dr. Reinhardt Lüer, der erste Vorsitzende des Geschichtsfreunde Bornum e.V. „Dä Born“. Etwa 840 Einwohner zählt der kleine Ort an der geschichtsträchtigen Bundesstraße 1, 210 Mitglieder haben die dort ansässigen Geschichtsfreunde. Man muss kein Mathematiker sein um zu wissen: Jeder vierte Bornumer ist Mitglied im Verein, der 1985 nach der 850-Jahrfeier Bornums ins Leben gerufen wurde.

„25 Personen haben damals den Verein gegründet. Ein 20-, ein 40- und ein 60-Jähriger führten das Archiv, um diese Position mit drei Generationen zu besetzen“, erinnert sich Lüer, als wäre es gestern gewesen. Der promovierte Gynäkologe, damals 40 Jahre alt und einer der Gründungsmitglieder, betont: „Von Anfang an war klar, dass wir keine mit landwirtschaftlichen Exponaten des Ortes überfrachtete Heimatstube aufbauen wollten, sondern Ziel war es immer, ein Archiv aufzubauen.“ Und so stürzte man sich auf die Ortsgeschichte. Das Archiv im kleinen aber feinen Wirtschaftshaus der ehemaligen Schule, das seit 30 Jahren von der Stadt Königslutter gemietet ist, ist imposant: Mittlerweile rund 13.000 Fotoaufnahmen und Abbildungen aus vielen Jahrhunderten zählt die so genannte Lindenstube. Ganz nebenbei: Geheizt wird sie von einem alten Ofen der Marke Bornum, wenn auch aus dem Ort gleichen Namens im Harz.

Die 26 Abteilungen des Archivs sind fein säuberlich nach Manfred Hamanns Richtlinien der Archivpflege im Lande Niedersachsen geordnet. Auch die chronologisch angelegte Bornumer Zeitschriften-Ausschnitts- und Artikelsammlung ist eine wahre Fundgrube der Ortsgeschichte, „Von der Oral-History bis zur EDV wollten wir alles Abdecken.“ Vor zehn Jahren wurde mit der Gründung des Klubs der jungen Historiker ein Verjüngungsversuch eingeleitet. Jüngst kam das Vereinsprojekt Ökoteich hinzu, in dem früher große Hechte und heute seltene Amphibien leben.

Vor Lüer auf dem Tisch liegt eine 800 Seiten dicke Fleißarbeit, das Familienbuch von Bornum. Heinrich Medefind ermittelte im Jahr 2008 erschienenen Werk in genealogischer Sisyphusarbeit die Namen aller Bornumer von 1649 bis 1940. Darunter die Groß- und Urgroßmutter des von den Nationalsozialisten verfolgten Malers Max Beckmann. Ganz nebenbei: Ein Schreibfehler des Bornumer Pfarrers im Kirchenbuch hatte aus Bethmann irgendwann Beckmann gemacht.

Ernestine Christine Reiske lebte als Landwirtin in Bornum am Elm, um Gotthold Ephraim Lessing nahe zu sein. Sie pflegte eine enge Brieffreundschaft zum Aufklärer, viele glauben heute noch an eine Liebschaft. Der Chirurg Lorenz Heister, der das erste Lehrbuch der Chirurgie geschrieben hatte und nach dem medizinische Instrumente benannt wurden, verstarb 1758 im Pfarrhaus Bornum. „Heister hatte dort Kranke betreut. Doch leider schleppte er auch die Lungenseuche ein. 24 Bornumer starben“, weiß Lüer, der den Bekanntheitsgrad Heisters unterstreicht: „Vor allem die Japaner nutzten Heisters Chirurgiewerk. Bis um 1900 war Deutsch die Medizinsprache in Japan.“

Warum interessiert sich der frühere Frauenarzt, der eine Praxis in Wolfenbüttel hatte, so sehr für die Ortsgeschichte? „Es muss Ende der 50er Jahre gewesen sein, als ich als junger Mensch an der B1 darauf wartete, dass Willy Brandt durchfährt. Doch als amtierender Bürgermeister von Berlin wurde Brandt am DDR-Grenzübergang Marienborn für zwei Stunden aufgehalten“, erinnert sich Lüer. „Nachdem Brandt mit seinem Mercedes durchgefahren war, ärgerte sich unser damaliger Gemeindevorsteher, dass Brandt in Bornum nicht mal kurz Halt gemacht hatte, ‚wo er doch Vorfahren im Orte gehabt habe‘. Mir wurde erst viel später klar, dass er Brandt vermutlich mit Karl Marx verwechselt hatte.“

Mit dem „Lindenblatt“ verfügen die Bornumer auch über eine einmal im Jahr erscheinende, 42-seitige Publikation, eine Anschubfinanzierung in Höhe von 1000 D-Mark leistete vor vielen Jahren ein Braunschweiger Unternehmer aus der Privatschatulle. Auf der Rückseite des vor Geschichte nur so strotzenden Magazins ist der Bornumer Terminkalender zu finden. „Mit dem Blatt gelingt uns die Bindung der weichenden Erben an das Dorf“, so Lüer. Das Titelblatt 2007 zieren historisch sehr wertvolle Fotos. Sie zeigen den Einmarsch US-amerikanischer Kampftruppen in Bornum am Elm am 12. April 1945. Ein Einwohner schwenkt die weiße Fahne, dies bedeutet das Kriegsende im Ort.

Dass in Bornum historisch nichts losgewesen sei, kann ein Besucher der Lindenstube wirklich nicht bestätigen.

Braunschweig

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