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Diakonissen: Hilfe in der Gemeinde und an der Front

Ein Foto aus dem Krankenhaus-Archiv: Eine Diakonisse mit zwei Babys. Foto: Marienstift / Ev. Stiftung Neuerkerode
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Das Braunschweiger Marienstift besteht 150 Jahre. Ein Rückblick in die Geschichte der evangelischen Diakonissenanstalt.

150 Jahre Marienstift! Nach Schließung des katholischen St. Vinzenz ist die evangelisch-lutherische Diakonissenanstalt heute das einzige konfessionelle Krankenhaus in Braunschweig. Seinem historischen Selbstverständnis, aus christlicher Nächstenliebe zu handeln, ist es in seinem Profil trotz Ökonomisierung des Krankenhauswesens treu geblieben – wenn auch der Zeitgeist an manchen Festen gerüttelt hat.

Logo Braunschweiger ZeitungDieser Artikel ist zuerst erschienen am 04.05.2020 (Bezahl-Artikel)

Seit 1956 schon werden im Marienstift keine Novizinnen mehr aufgenommen, die ihr Leben als ehe- und besitzlose Diakonissen bedingungslos in den Dienst des Glaubens und Helfens stellen.

Der Blick zurück führt unweigerlich hin zu diesen Frauen, die einerseits die Chance auf Ausbildung und auch leitende Funktionen erhielten und andererseits bereit waren, für ihren Glauben auf Privatheit zu verzichten.

Mehr als 200 Diakonissen wohnten und arbeiteten in Hochzeiten im Marienstift. Heute leben noch vier von ihnen als Ruheständlerinnen auf dem Gelände des Marienstifts, das seit 2014 mit der Evangelischen Stiftung Neuerkerode verschmolzen ist.

Die Geschichte des Marienstifts beginnt vor 150 Jahren mit Unterstützung des Vaterländischen Frauenvereins. Der in Braunschweig neu gegründete Verein hat das Ziel, genügend Kapazitäten zu schaffen, um im Kriegsfall Verwundete und Kranke pflegen zu können.

Daher fördert der Frauenverein im Herzogtum Braunschweig die Gründung eines Diakonissenhauses, wie sie damals gerade in mehreren Ländern entstehen. Im Kriegsfall soll es als Lazarett dienen. Und dieser Fall tritt mit dem Deutsch-Französischem Krieg schon bald nach Eröffnung des neuen Hospitals am 8. Mai 1870 ein.

In den beiden Privathäusern an der Wolfenbütteler Straße wird es bald zu eng. Wie Karl-Heinz Löffelsend in „Die Braunschweiger Krankenhäuser im Wandel der Zeit“ (Braunschweig, 2017) schreibt, bietet das Hospital nur Platz für fünf Patienten. Noch im Gründungsjahr wird Löffelsend zufolge eine Baracke mit weiteren 20 Betten errichtet. Insgesamt 74 verwundete Soldaten werden behandelt.

Die Diakonissen können in diesen Kriegszeiten ihre Fähigkeiten beweisen und, wie es heißt, in Braunschweig Vorurteile gegen die neue Bewegung abbauen. Gründungsvater der Diakonissenhäuser war der evangelische Pfarrer Theodor Fliedner, nach dem die Kirche des Marienstifts benannt ist.

1836 hat er in Kaiserswerth das erste Haus eröffnet. Später entsteht daraus der Kaiserswerther Verband deutsche Diakonissen-Mutterhäuser, ein Netzwerk Diakonischer Unternehmen.

1871 erteilt Herzog Friedrich Wilhelm die Erlaubnis, das Hospital nach seiner Mutter, der Herzogin Marie von Baden und Lüneburg und Frau des „Schwarzen Herzogs“, zu benennen.

Das Lazarett des Vaterländischen Frauenvereins entwickelt sich, so Löffelsend, als Marienstift zu einem christlichen Zivilkrankenhaus und zugleich diakonischem Mutterhaus unter Leitung eines Theologen und einer Oberin. Die Trägerschaft geht vom Vaterländischen Verein in eine Stiftung über.

1882 der Umzug an die Helmstedter Straße. Nach und nach entstehen auf dem Areal neben dem Krankenhaus ein Pfarrhaus, das Alten- und Pflegeheim Bethanien, eine Kirche und ein Feierabendhaus für Diakonissen im Ruhestand.

Die Diakonissen leben und arbeiten unter einem Dach. Ihre Aufgaben beschränken sich nicht auf die Krankenpflege. Bald kommt die Gemeinde- und Kinderpflege hinzu, in den 1880er Jahren entstehen Kleinkinderschulen etwa in Riddagshausen, St. Petri, Destedt und Königslutter. 1917 betreut das Marienstift zehn Kleinkinderschulen.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wird in Klein Schöppenstedt ein Hof zur Betreuung gefährdeter Mädchen eröffnet, im Harz können sich Lungenkranke in Häusern des Marienstifts erholen. Auf den Dörfern der Umgebung und in den Stadtteilen sind Diakonissen bis in die 1960er-Jahre hinein in der Gemeindepflege aktiv.

Im Ersten Weltkrieg entsendet das Marienstift Schwestern zum Lazarettdienst nach Frankreich und Ostpreußen. Eine Diakonisse schreibt aus dem Lazarettzug: „Ich hatte 62 Verwundete zu versorgen, liebe Menschen, und davon so viele elend. … Der eine starb schon nach drei Tagen – solch langer, netter Junge. Sie nannten mich alle Mutter. Und als ich ihn im Lazarett noch einmal besuchte und beim Fortgehen zunickte, rief er mir noch mit seinem freundlichen Lächeln zu: ,Adieu, Mutter‘.“

Die Nazi-Herrschaft: Nach der Reichskristallnacht nimmt das Marienstift verwundete jüdische Bürger auf. Was nicht ohne Konsequenzen bleibt. Der Eintritt in die Schwesternschaft wird verboten. Die 1927 für schulentlassene Mädchen eröffnete Marthaschule muss geschlossen werden.

Im Gegensatz zu anderen Braunschweiger Krankenhäusern wird auch der Bau von Bombenschutzmaßnahmen untersagt. Als das Marienstift 1944 in den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs fast vollständig zerstört wird, sterben fünf Diakonissen und 22 Patienten. Während des Hitler-Regimes werden im Krankenhaus Marienstift auch Zwangssterilisationen von Bewohnenden der Neuerkeröder Anstalten vollzogen.

„Wenn schon diese Eingriffe erfolgen mussten, dann wollten wir diesen Menschen mit Anstand begegnen“, wird in den historischen Quellen ein Chefarzt zitiert.

Pflegenotstand — dieses ist Wort ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. In der Nachkriegszeit schrumpft die Zahl der Diakonissen, 1956 werden die letzten im Marienstift eingesegnet. Anlässlich der 100-Jahr-Feier im Jahr 1970 schreibt Oberin Helene Grüning über diesen Trend:

„Dabei besteht heute, vielleicht mehr denn je, die Ansicht, als seien Diakonissen in dieser veränderten Welt lebensfremd, dem Zeitgeschehen gegenüber verschlossen, rückständig und einseitig orientiert. Von diesem Missverständnis her findet die Jugend, die irgendwelche Bindungen nur ungern eingeht, den Weg fast nicht mehr in die Mutterhausdiakonie.“

Zwar besuchten viele die Krankenpflegeschule des Marienstifts, stellt Grüning fest, aber für die Hilfe alter und kranker Menschen suchten sie sich „eigene Formen“.

Immer mehr freie Krankenschwestern lösen die Diakonissen ab. In den Mutterhäusern des Kaiserwerther Verbandes bilden sich alternativ Verbandsschwesternschaften: Diese Schwestern bekennen sich ebenfalls zum Glauben, legen aber nicht die drei Gelübde der Ehe- und Besitzlosigkeit sowie des Sendungsauftrags ab.

Arbeiten auf christlicher Grundlage – dieses Leitbild gilt bis heute. 2014 besiegelten die Evangelische Stiftung Neuerkerode und die Evangelisch-lutherische Diakonissenanstalt Marienstift mit einem Kooperationsvertrag eine strategischen Allianz im Krankenhausbereich und für Gesundheitsdienstleistungen.

Das Krankenhaus Marienstift, das Pflege- und Seniorenzentrum Bethanien mit 250 Bewohnern und somit Braunschweigs größtes Altenheim sowie das eigene Bildungszentrum auf dem Gelände gelten seither als entscheidender Knoten im Versorgungsnetzwerk der Evangelischen Stiftung Neuerkerode.

So eröffnen die Lukas-Werk Gesundheitsdienste GmbH im Marienstift 2017 ein Medizinisches Zentrum für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen (MZEB). Darüber hinaus schärfen die Chirurgie mit Handchirurgie und Hernienzentrum, die Palliativmedizin und Innere Medizin, die Geburtsklinik und HNO-Abteilung das medizinische Profil.

Um das Krankenhaus moderner und wirtschaftlicher betreiben zu können, soll 2021 soll ein zeitgemäßer Krankenhaus-Neubau eröffnet werden. Es ist der vierte in der Historie des Hauses.

Logo Braunschweiger ZeitungDieser Artikel ist zuerst erschienen am 04.05.2020 und erreichbar unter: https://www.braunschweiger-zeitung.de/braunschweig/article229039687/Diakonissen-Hilfe-in-der-Gemeinde-und-an-der-Front.html (Bezahl-Artikel)

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