Ein Pferd gibt Halt

Der Haflinger Franz lässt sich ganz geduldig von Imini und Lea striegeln. Foto: Rosemarie Garbe
Der Haflinger Franz lässt sich ganz geduldig von Imini und Lea striegeln. Foto: Rosemarie Garbe

Einmal im Mittel­punkt stehen: Geschwister schwer­kranker Kinder profi­tieren von Reitstunden in Querum.

Franz ist ein verträg­li­cher Zeitge­nosse. Der Haflinger mit der hellen Mähne und dem fuchs­far­benen Fell steht geduldig in der Stall­gasse des Reit- und Thera­pie­zen­trums Braun­schweig in Querum und lässt sich von Lea und Imini striegeln und bürsten. Vor allem Imini ist mit Begeis­te­rung bei der Sache, die fünfjäh­rige Lea schaut dagegen etwas verträumt in die Runde. Gleich gegenüber steht die 21-jährige Jenni und hat alles im Blick. Sie achtet darauf, dass das Zaumzeug richtig sitzt und warnt die Mädchen, als ein anderes Pferd die Stall­gasse passieren will. Imini und Lea gehören zu einer Gruppe von Kindern, deren Reit- und Volti­gier­stunden von der Kroschke Kinder­stif­tung gefördert werden, weil ihr Bruder oder ihre Schwester unter einer schweren chroni­schen Erkran­kung oder Behin­de­rung leidet. Es sind die sogenannten Geschwis­ter­kinder, Mädchen und Jungen, die in der Regel weniger Aufmerk­sam­keit von ihren Eltern bekommen können, stets Rücksicht auf das kranke Geschwis­ter­chen nehmen und sehr früh Verant­wor­tung tragen müssen.

Vielfäl­tige Effekte

Reiten macht Lea auch bei Schmuddelwetter Spaß. Foto: Rosemarie Garbe
Reiten macht Lea auch bei Schmud­del­wetter Spaß. Foto: Rosemarie Garbe

Der Umgang mit Pferden ist in beson­derer Weise geeignet, diesen Kindern mehr Raum für sich selbst zu verschaffen. „Ein Pferd gibt Halt“, sagt Friede­rike Bewig, Inhaberin des Reitstalls in Querum. Der große warme Körper, die Pflege des Fells, die Möglich­keit zum Kuscheln und die vorbe­halt­lose, geduldige Offenheit, mit der Pferde anderen begegnen, machen die Tiere zu einem wichtigen Partner. Beim Reiten und Volti­gieren können die Kinder Gleich­ge­wicht und Geschick­lich­keit trainieren, ihre Haltung wird verbes­sert, die Motorik geschult. Sie lernen Verant­wor­tung zu übernehmen, Regeln und Grenzen anzuer­kennen. Und sie werden selbst­be­wusster und offener. „Sie sind stolz, dass sie zum Reiten gehen und fühlen sich gleich­wer­tiger“, weiß Friede­rike Bewig, sie bietet seit 2016 Gruppen für diese Kinder an. Noch etwas ist ganz wichtig: Die Mädchen und Jungen können beim Reiten mit anderen reden, die ebenfalls schwer­kranke Geschwister und ähnliche Erfah­rungen in ihren Familien gemacht haben. Diese Möglich­keit haben sie norma­ler­weise nicht.

Geschwis­ter­kinder-Netzwerk Nieder­sachsen

Doch dieser Austausch ist von großer Bedeutung. Kinder mit schwer­kranken Geschwis­tern stellen ihre Bedürf­nisse norma­ler­weise hintenan, sie sind schon im jungen Alter mit Krankheit, Pflege und Trauer konfron­tiert und sprechen wenig über die belas­tende Situation in ihren Familien. „Obwohl alle Eltern in der Regel bemüht sind, den Bedarfen all ihrer Kinder gleicher­maßen gerecht zu werden, erfordert die Pflege und Fürsorge eines kranken Kinders viel Kraft, Aufmerk­sam­keit und oftmals zusätz­liche finan­zi­elle Ressourcen“, weiß Ursula Neuhaus, Leiterin des Geschwis­ter­kinder-Netzwerkes Nieder­sachsen. Um den betrof­fenen Geschwis­tern einen Raum zu verschaffen, ihre eigenen Themen alters­ge­recht und fachkundig begleitet einzu­bringen, bietet das Netzwerk besondere Angebote für diese an, dabei geht es um Mädchen und Jungen im Alter zwischen drei und 18 Jahren.

Weg von den täglichen Sorgen

Dazu zählen beispiels­weise Sommer­camps in Ottern­dorf an der Nordsee, die die Kroschke Kinder­stif­tung ebenfalls schon einmal gefördert hat. Dort können die Teilneh­me­rinnen und Teilnehmer weit weg von den täglichen Sorgen und dem belas­tenden Alltag tolle Tage verbringen mit Sport, Bewegung, Spiel und Spaß. In anderen regel­mäßig statt­finden Gruppen, die von Fachleuten begleitet werden, dreht sich alles um die Geschwis­ter­kinder. Durch das Zusam­men­sein mit ebenfalls betrof­fenen Kindern können sie spiele­risch Wege der Reflexion erlernen, sie erfahren, wie sie mit der schwie­rigen Situation in den Familien umgehen können und wo sie Hilfe bekommen können. „Wir verstehen unsere Angebote als Präven­tion“, so Ursula Neuhaus. Und sie sind ein Beitrag zu einem gesunden Heran­wachsen. Eine Unter­stüt­zung der Kranken­kassen gibt es dafür zumindest in Norddeutsch­land in der Regel jedoch nicht.

Auf dem Reitplatz prüft Jenni, ob das Zaumzeug richtig sitzt, Imini hält den Haflinger Franz am Führstrick. Foto: Rosemarie Garbe
Auf dem Reitplatz prüft Jenni, ob das Zaumzeug richtig sitzt, Imini hält den Haflinger Franz am Führstrick. Foto: Rosemarie Garbe

Auch die 21-jährige Jenni hat im Reit- und Thera­pie­zen­trum Braun­schweig jahrelang an einer Gruppe für Geschwister schwer­kranker Kinder teilge­nommen, weil ihr kleiner Bruder an Autismus leidet. Sie ist jetzt eine selbst­be­wusste junge Frau, die sich um Kinder wie Lea, Imini, Tamara, Leila und viele andere kümmert. An diesem grauen Tag begleitet sie die Mädchen mit den Pferden zu einem kleinen Sandplatz, wo diese ihre Runden drehen. Jenni hat im Reit- und Thera­pie­zen­trum nicht nur ihre Liebe zu den Pferden entdeckt, die Teilnahme hat auch ihre Berufs­wahl beein­flusst: Sie möchte eine Ausbil­dung zur Pferde­wirtin absol­vieren.

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