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Vernarrt in Seegurken – neuer Museumschef in Braunschweig

Dr. Mike Reich (48) in der „Schatzkammer“ mit historischen Beständen des Naturhistorischen Museums, die bis ins 17. Jahrhundert zurückgehen. Foto: Florian Arnold
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Dr. Mike Reich leitet seit Januar das Naturhistorische Museum. Was ihn ausmacht und antreibt, und was ihn an Seegurken fasziniert – ein Porträt.

Der Mann ist rumgekommen in der Welt. Hat in Kanada und den USA an Forschungsprojekten mitgearbeitet, in entlegenen Bodenschichten in China nach Spuren früher mehrzelliger Lebewesen gesucht, vor Ägypten und Neuseeland nach seltenen Stachelhäutern getaucht. Nach dem Studium der Paläontologie, Zoologie und Geologie in Greifswald wurde er mit 29 Jahren promoviert, mit 31 stellvertretender Leiter des Geowissenschaftlichen Museums in Göttingen und 2016 stellvertretender Direktor der Bayerischen Staatssammlung für Geologie und Paläontologie in München.

Logo Braunschweiger ZeitungDieser Artikel ist zuerst erschienen am 26.01.2022 (Bezahl-Artikel)

Und nun: Braunschweig. Anfang des Jahres hat Dr. Mike Reich die Nachfolge von Prof. Ulrich Joger als Direktor des Naturhistorischen Museums angetreten. „17 Jahre in Stellvertreterpositionen reichen“, sagt der zugewandt, aber selbstbewusst auftretende Wissenschaftler. „Museumschef, das ist für mich ein Traumjob“, erklärt Reich. „Weil er so vielfältig ist. Und die Chance bietet, Natur begreifbar zu machen.“

Eine Berufung als Professor für Paläontologie an die TU Freiberg habe er vor einigen Jahren abgelehnt. Zu spezifisch. Forschung – ja bitte. Aber darüber hinaus lägen ihm die Entwicklung von Institutionen am Herzen, das Organisieren von Ausstellungen, die Vermittlung naturkundlicher Themen an jederfrau. Das Verständnis für wichtige Details und das große Ganze des Ökosystems Erde will er fördern – „Empathie auch für Spinnen und Quallen wecken“, findet der gebürtige Brandenburger eine griffige Formel dafür.

Warum Seegurken so wichtig sind

Wobei sein besonderes Interesse den Seegurken gilt. Da ist er eine Kapazität. Brasilianische Kollegen hätten sogar mal eine neuentdeckte Art nach ihm benannt, lässt er sich entlocken. Warum ausgerechnet Seegurken? „Weil sie faszinierend sind“, sagt der Wissenschaftler mit dem blonden Vollbart. „Auf gewisse Weise sogar ästhetisch. Und ganz wichtig für das Ökosystem Meer.“

Seegurken seien sozusagen die Regenwürmer der Meere. Sie durchwühlten den Boden, brächten Sauerstoff hinein, verdauten darin enthaltene Stoffe und machten sie dadurch für andere Meeresbewohner verwertbar. „Sie haben winzige kalkige Skelettteile in ihrer Haut eingeschlossen, die teils wunderschöne Formen haben“, sagt Reich. Die hülfen ihnen bei der Fortbewegung und schützten sie vor Feinden.

Die unerforschte Welt der Stachelhäuter

„Seegurken gehören zu den Stachelhäutern“, erklärt der 48-Jährige weiter. Das sei eine Gruppe von Tieren, die vor allem den Meeresboden bevölkert: Seeigel, Seesterne, Seelilien, Schlangensterne, und Seegurken. „Sie sind noch nicht zu Ende erforscht. Das gefällt mir daran“, sagt Reich. „Ich liebe das Meer und Projekte, mit denen man noch einen Blumentopf gewinnen kann.“

Das gilt in gewisser Weise auch für das Naturhistorische Museum. Das sei schon eine gute Adresse. Nicht die allererste Liga wie das Frankfurter Senckenberg-Museum oder das Berliner Museum für Naturkunde. Aber doch ein mittelgroßes Haus, das weit über die Region ausstrahle, auch wegen seiner langen Tradition. Und noch viel mehr strahlen könne, wenn man die Bestände digitalisiere, auch mit 3D-Methoden, und so international verfügbar mache. Das sieht Reich als eine der Kernaufgaben, die er hier anpacken will.

Ziele: ein neues Depot und Räumlichkeiten für Sonderausstellungen

Dann könnte etwa die historische Sammlung der Vögel und Fledermäuse online gehen, die Johann Heinrich Blasius, ein Vorgänger Reichs im 19. Jahrhundert, aufbaute. Die Bedeutung von Museen, erläutert Reich, bemesse sich zum einen an der Größe ihrer Sammlung. Das Naturhistorische verfüge etwa über 500.000 Objekte (im Vergleich zu 40 Millionen im Senckenberg-Museum). Aber natürlich auch an den deren Relevanz. Da gehe es vor allem um das Vorhandensein sogenannter Holo- oder Urtypen neuer Tier- und Pflanzenarten, auf denen die weitere naturkundliche Forschung aufbaue. Da punkte Braunschweig zum Beispiel mit den Fledermäusen und Vögeln.

Ein zentrales Depot für die Museumssammlung zu schaffen, ist ein weiteres Ziel von Reich. Derzeit lagert sie an verstreuten Orten. Und auch vorzeigbare, zeitgemäße Räumlichkeiten für Sonderausstellungen will der neue Direktor endlich akquirieren, ein Vorhaben, an dem sich sein Vorgänger die Zähne ausbiss. Zunächst aber wolle er alle Mitarbeiter kennenlernen, „ihre Potenziale“ entdecken, um optimal mit ihnen zusammenarbeiten zu können. Das wolle er nämlich eine lange Zeit tun, macht Reich deutlich, dass er nicht gekommen sei, um bald wieder zu gehen. „Die Leitung dieses Hauses ist schon so etwas wie die Krönung meines bisherigen Lebensweges.“

Es darf auch kontrovers werden

Bei künftigen Sonderausstellungen will Reich auch kontroverse Themen anschneiden. Da könne es etwa um den Konflikt zwischen Windrädern und Vogelschutz gehen. Das Thema Biodiversität treibt den Naturkundler um, der privat gerne Landschaftsaquarelle malt, liest, aber auch selbst Bücher bindet. Sorgenvoll spricht er über den Schwund zahlreicher heimischer Insektenarten in den vergangenen 30 Jahren. Aber auch in den Ozeanen sei das große Sterben angebrochen, etwa im pazifischen Biodiversitäts-Hotspot zwischen Indonesien und den Philippinen. Eine Ursache sei Plastikmüll, der in winzig kleinen Partikeln tierische Stoffwechselkreisläufe vergifte. „Ich finde es wichtig, in Ausstellungen zu zeigen, wie das auch mit unserem Verhalten zusammenhängt.“

Wenn er als Paläontologe dem Aufkommen und Aussterben von Arten und erdgeschichtlichen Veränderungen in der Frühzeit nachspüre, helfe das auch, genauere Aussagen für die Zukunft zu treffen. Klimawandel als Prozess, durch Naturkatastrophen, aber auch durch menschliche Eingriffe habe es schon immer gegeben, betont Reich. Um den Planeten sei ihm dabei nicht bange. „Der ist erstaunlich robust.“ Ob Menschen und viele Tiere mit den aktuellen Veränderungen jedoch auf Dauer zurechtkämen, sei eine andere Frage.

Logo Braunschweiger ZeitungDieser Artikel ist zuerst erschienen am 26.01.2022 und erreichbar unter: https://www.braunschweiger-zeitung.de/kultur/article234414535/Vernarrt-in-Seegurken-neuer-Museumschef-in-Braunschweig.html (Bezahl-Artikel)

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