Als Pioniere über Nacht ein Loch in den Grenzzaun schweißten
Am 12. November 1989 um 7.58 Uhr fiel endlich auch der Eiserne Vorhang zwischen Hessen und Mattierzoll.
Noch heute ist Enrico Kretschmar, der erste demokratisch gewählte Bürgermeister der Gemeinde Hessen nach der Wende, ergriffen von den dramatischen Ereignissen rund um den 12. November 1989. Denn an diesem Tag öffnete sich der Eiserne Vorhang zwischen der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und der Bundesrepublik Deutschland endlich auch zwischen Hessen (heute Sachsen-Anhalt) und Mattierzoll (Landkreis Wolfenbüttel). Ein einiges Deutschland und Reisefreiheit hatte der 1960 geborene Kretschmar bis dahin nicht erlebt.
Drei Tage nach dem Fall der Mauer am 9. November wurde an jenem kalten Sonntagmorgen um 7.58 Uhr die fast vier Jahrzehnte lang gesperrte Straße B 79 in den Westen wieder befahrbar. Soldaten des Pionierbataillons in Hessen hatten in der Nacht zuvor die Sperranlagen aufgeschweißt, den Graben zugeschüttet und die Straße provisorisch befestigt. Tausende Autos sollten sie in den nächsten Tagen winkend, jubelnd und glückselig überqueren.
Erinnerungskultur hochhalten
Heute pflegt Enrico Kretschmar in der Nachfolge des ehemaligen Wolfenbütteler Landrats Ernst-Henning Jahn (1938-2023) die Erinnerungskultur an die Grenzöffnung. Anlässlich des 35. Jahrestags lädt der Förderverein Schloss Hessen zu einer Gedenkveranstaltung ein. Bereits am 9. November (14 Uhr, Treffpunkt Grundschule Winningstedt) findet eine etwa fünf Kilometer lange Wanderung unter dem Motto „Für Frieden, Freiheit und Demokratie“ entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze statt. Anschließend trifft sich die Gruppe auf Schloss Hessen. Geöffnet ist dort die Sonderausstellung zur Grenzöffnung, auch tags darauf zwischen 15 und 18 Uhr. Besucher können dort ihre Geschichte zum 12. November 1989 erzählen. Daraus soll ein kleines Buch werden, das die Erinnerung wachhält.
Am Vorabend der Grenzöffnung zwischen Hessen und Mattierzoll vor 35 Jahren war auf beiden Seiten, im Osten und im Westen, demonstriert worden. Mit dabei waren Enrico Kretschmar auf DDR-Seite und Ulrich Rueß auf westlicher Seite. Beide schwenkten weiße Fahnen, konnten sich aber wegen des Sperranlagen nicht sehen. Heute sind sie befreundet und kümmern sich darum, dass die Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten.
Schweres Gerät in der Nacht
Zu dem Zeitpunkt war noch nicht abzusehen, was am nächsten Morgen tatsächlich möglich werden sollte: „Ich war früh aufgestanden, weil ich mir eine Garage bauen wollte. Es war noch dunkel, aber ich hörte schweres Gerät und konnte mir keinen Reim darauf machen. Die Pioniere waren nie sonntags unterwegs. Als es hell geworden war, hielt ein Nachbar mit seinem Trabbi und rief mir zu: Enrico, die Grenze ist offen.“
Drei Tage zuvor hatte Politbüro-Mitglied Günter Schabowski (1929-2015) vor laufenden Kameras Reisefreiheit für alle DDR-Bürger angekündigt und damit den Fall der Mauer und das Ende der DDR eingeleitet. Wörtlich hatte er gesagt: „Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen. … Also, Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässen und Verwandtschaftsverhältnissen beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt … Das tritt nach meiner Kenntnis, äh, ist das sofort, unverzüglich.“
Überforderte DDR-Grenzsoldaten
In Windeseile fluteten daraufhin DDR-Bürger die großen Grenzübergänge in Berlin und auch zum Beispiel in Helmstedt-Marienborn. Mit dem unglaublichen Ansturm überforderte DDR-Grenzsoldaten mussten nach wenigen Stunden die Mauer eigentlich ungeplant komplett öffnen. Diese Wende und letztlich die deutsche Einheit wären ohne die friedlichen Demonstrationen der DDR-Bürger und vor allem ohne die Politik von Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) des damaligen Generalsekretärs des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michail Gorbatschow (19931-2022), nicht möglich gewesen. Auch das darf nicht in Vergessenheit geraten.
Die Grenztruppen in Hessen hatten wie tags zuvor die Grenzer in Berlin und anderswo nicht gewusst, wie sie sich angesichts der Demonstrationen verhalten sollten. Auf Nachfrage erhielten sie am Abend des 11. November lapidar zur Antwort, dass sie vor Ort selbst entscheiden sollten. „Niemand wollte mehr Verantwortung übernehmen“, sagt Enrico Kretschmar. Der damalige Leiter der Grenztruppen in Hessen zog seinen Stab zusammen, entschied im Sinne der Bevölkerung und ließ die Pioniere für den Frieden ausrücken.
Staus aus Trabbis und Wartburgs
Die Bilder des 12. November 1989 in Hessen werden Enrico Kretschmar niemals aus dem Kopf gehen. „Rund 22.000 Menschen hatten sich in kürzester Zeit beiderseits des neuen Grenzübergangs versammelt. Es war für uns wie Weihnachten und Ostern an einem Tag“, erinnert er sich. Die neue Möglichkeit, mit dem Auto in den Westen zu kommen, sprach sich wie ein Lauffeuer herum. Am Grenzübergang Marienborn hatte es eine rund 80 Kilometer lange Schlange aus Trabbis und Wartburgs gegeben. Dass Hessen/Mattierzoll über Nacht zu einer Alternative geworden war, sprach sich herum wie ein Lauffeuer und war auch bald hoffnungslos verstopft: 20 Kilometer Stau. Aber das störte in diesen bewegenden Tagen niemanden auf dem Weg in die endlich wiedergewonnene Freiheit.