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Pilotprojekt in Wolfenbüttel über Verurteilte der NS-Justiz

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„Ewige Zuchthäusler?!“ heißt das neue Forschungsprojekt in der Gedenkstätte der JVA über NS-Opfer, die bisher kaum berücksichtigt wurden.

Wieder eine Perle im Collier des Wissenschafts- und Forschungsstandortes Wolfenbüttel. Das Projekt „,Ewige Zuchthäusler?!‘ – Entschädigung für Justizverurteilte und die individuellen sowie gesellschaftlichen Auswirkungen“ wurde gestern bei einer Pressekonferenz in der Gedenkstätte der Justizvollzugsanstalt vorgestellt. Das Thema ist aufrührend, wichtig, weil es etwas mit Anerkennung zu tun hat, endlich notwendiger Wertschätzung. Das Forschungsprojekt ist ein Pilotprojekt, einmalig in der Bundesrepublik, „absolutes Neuland“, wie es Gedenkstättenleiterin Martina Staats im Gespräch mit der Braunschweiger Zeitung ausdrückte. Das jetzt in Wolfenbüttel angesiedelte Projekt mit fünf Mitarbeitenden arbeitet bundes- und europaweit.

Logo Braunschweiger ZeitungDieser Artikel ist zuerst erschienen am 27.1.2023

Am Beispiel des ehemaligen Strafgefängnisses Wolfenbüttel widmet es sich einer bislang kaum berücksichtigten Verfolgtengruppe: Den im Nationalsozialismus inhaftierten und hingerichteten Justizverurteilten. „Werden die von der nationalsozialistischen Justiz Verurteilten ebenso als NS-Opfer anerkannt wie Häftlinge aus Konzentrationslagern?“, fragt Staats. „Wie ist ihre gesellschaftliche Anerkennung?“

526 Menschen hingerichtet

Pressekonferenz zum bundesweit einmaligen Projekt „Ewige Zuchthäusler“, das jetzt in Wolfenbüttel angesiedelt ist, mit Kooperationspartnern, wissenschaftlichen Mitarbeitern und Angehörigen der Opfer. Foto: Stephan Querfurth

Zum Hintergrund: In das Strafgefängnis Wolfenbüttel wurden in der Zeit von Oktober 1937 bis März 1945 mehr als 15.600 Menschen als von der NS-Justiz Verurteilte eingeliefert. 526 von ihnen wurden hingerichtet. Es handelte sich bei ihnen um Widerstandskämpfer und andere Gegner des nationalsozialistischen Systems, um „Asoziale und Volksschädlinge“, Homosexuelle, zur Zwangsarbeit Verpflichtete, Juden, Zeugen Jehovas und Sinti. Sie alle kamen aus Deutschland und dem europäischen Ausland.

Die heutige Gedenkstätte auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalt hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Unrechtstaten der Justiz des Nationalsozialismus nicht in die Vergessenheit versinken zu lassen. Gestern, am 27. Januar, wurde der Internationale Tag zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus begangen. Anlass genug, um das Pilotprojekt „Ewige Zuchthäusler?!“ am Beispiel des ehemaligen Strafgefängnisses Wolfenbüttel der Öffentlichkeit vorzustellen und zu erläutern. „(…) Dass wir noch immer als Zuchthäusler behandelt werden, und das sollen wir nach Meinung deutscher Juristen für alle Ewigkeit sein“, zitierte Martina Staats Alf Pahlow Andresen aus dem Jahr 2003. Der norwegische Autor war einmal als Widerstandskämpfer Häftling in Wolfenbüttel.

Die Schwiegertochter des ehemaligen norwegischen Justizverurteilten, Karikaturisten und Widerstandskämpfers Wilfred Jensenius war aus Norwegen angereist und berichtete über ihre Arbeit mit traumatisch geschädigten Opfern und ihren Angehörigen. Und André Charon, Sohn des gleichnamigen belgischen Medizinstudenten und Widerstandskämpfers, erinnerte an die gegenwärtige Bedrohung durch Rechtspopulisten in Deutschland und ganz Europa: „Diese totalitäre Versuchung ist hauptsächlich auf die kollektive Ignoranz und Amnesie der Vergangenheit zurückzuführen.“ Er sehe nur ein Gegenmittel, so Charon, Bildung.

André Charon aus Belgien und Grete Refsum aus Norwegen als Angehörige von ehemaligen Häftlingen des Strafgefängnisses Wolfenbüttel (von rechts) übergeben Archivmaterialien an die Gedenkstättenleiterin Martina Staats. Foto: Stephan Querfurth

Finanziell getragen wird das Pilotprojekt, das sowohl den Anerkennungsanspruch als Opfer des nationalsozialistischen Gewaltregimes als auch Entschädigungsansprüche ehemaliger Opfer oder deren Angehöriger durchsetzen will und seine Forschungsarbeit auch als Bildungsauftrag versteht, von der Berliner Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (evz) und dem Bundesministerium der Finanzen. Die Stiftung unterstützt Überlebende nationalsozialistischer Verfolgung und stärkt das Engagement ihrer Nachkommen. Sie fördert geschichtsbewusstes Wissen über NS-Unrecht mit jungen Menschen und setzt sich gegen jede Form von Diskriminierung ein.

Die der Pressekonferenz aus Berlin zugeschaltete Vorsitzende der Stiftung, Andrea Despot, betonte, das Projekt schließe eine Forschungslücke, da es „eine Opfergruppe beleuchtet, die in der Erinnerungskultur wenig Beachtung findet.“ Die Fördersumme beträgt gut 580.000 Euro. Das Projekt ist bis zum 30. September 2024 befristet.

Das Projekt und seine Recherchearbeiten wird zusammen mit dem Institut für Braunschweigische Regionalgeschichte und seinen Studierenden unter Leitung von Thomas Kubetzky sowie Benedict Wydooghe von der belgischen Hogeschool „Vives“ in Kortrijk durchgeführt. Das Projektteam wird neben intensiver Archivarbeit Biografie-Interviews mit Angehörigen der Opfer führen und Nachlässe bearbeiten. Gleichzeitig werden Studierende aus den Bereichen Pädagogik, Soziale Arbeit und Jura in die Bildungsarbeit einbezogen. Die Gedenkstätte arbeitet in diesem Bereich eng mit der Bundesakademie für Bildung in Wolfenbüttel zusammen.

 

Logo Braunschweiger ZeitungDieser Bezahl-Artikel ist zuerst erschienen am 27.1.2023 und erreichbar unter: https://www.braunschweiger-zeitung.de/wolfenbuettel/article237482659/Pilotprojekt-in-Wolfenbuettel-ueber-Verurteilte-der-NS-Justiz.html

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