Startseite Wissenschaft & Technik „Sie fürchteten den Krieg nich...

„Sie fürchteten den Krieg nicht genug“

Autor Christopher Clark (Mitte) stellte sich im Haus der Wissenschaft der Kritik. Foto: Peter Sierigk
von

Im Rahmen des Lessing-Preises für Kritik diskutierte der Historiker Prof. Dr. Christopher Clark mit Prof. Dr. Gerhard Hirschfeld und Dr. Franziska Augstein in Braunschweig über die Ursachen des Kriegsbeginns 1914.

Das Interesse war riesengroß, nicht einen freien Sitzplatz gab es in der Aula des Hauses der Wissenschaft in Braunschweig. Rund 200 Zuhörer kamen am 12. Oktober, um im Rahmen des von der Lessing-Akademie e.V. und der Stiftung STIFTUNG NORD/LB • ÖFFENTLICHE gemeinsam vergebenen Lessing-Preises für Kritik die lebhaft geführte Podiumsdiskussion der Erste-Weltkrieg-Experten Prof. Dr. Christopher Clark, Prof. Dr. Gerhard Hirschfeld und Dr. Franziska Augstein zu verfolgen. Als Aufhänger des Zwiegesprächs diente Clarks Welterfolg „Die Schlafwandler“ und die im Werk des Australiers aufgestellten Thesen zu den Ursachen, die zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges führten.

Die Idee zu dieser von vielen Details geprägten Auseinandersetzung mit Clarks zum Teil stark kritisierten Geschichtswerk zu 1914 entstand – völlig spontan übrigens – auf der Pressekonferenz zur Vergabe des Lessing-Preises für Kritik im Frühjahr 2014. Der Preisträger selbst, Prof. Dr. Hans-Ulrich Wehler, einer der bedeutendsten deutschen Historiker überhaupt, schlug dies vor. Die beiden auf der ganzen Welt hoch angesehenen Historiker vertraten ganz unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Vorgeschichte des Weltkrieges vor 100 Jahren, der Millionen Opfer forderte. Beide hatten über viele Jahre wissenschaftliche Streitgespräche auf höchstem Niveau geführt. Tragischerweise verstarb Wehler nur wenige Wochen später. „Wehler hätte es sich gewünscht, dass die heutige Runde mit Clark stattfindet. Bei unserer Diskussion müssen wir uns immer Hans-Ulrich Wehlers Stimme hinzu denken“, sagte Moderator Dr. Cord-Friedrich Berghahn, Präsident der Lessing-Akademie.

„Es gibt geradezu eine ozeanische Überfülle an Quellen zum Ersten Weltkrieg. Viele Werke hierzu erschienen in den 70er und 80er Jahren. Jedoch untersuchte damals jedes Land seine Geschichte aus seiner Perspektive. Der Blick auf die Dinge kam aus Berlin, London, Paris oder Wien“, berichtet Clark, der heute eine Reguis Professur, die früher vom britischen Königshaus vergeben wurde, in Cambridge besitzt. Clark über „Die Schlafwandler“: „Ich wollte ein Buch aus mehreren Perspektiven schreiben, so dass dem Thema mehr Gerechtigkeit widerfährt.“

Einigkeit herrschte beim Trio, dass der Erste Weltkrieg auch ein globaler Krieg unter Beteiligung aller Nationen war – und von der Erdbevölkerung auch so wahrgenommen wurde. Mehr noch als der Zweite. „Ich habe Quellen in den Händen gehabt, dass selbst auf der kleinen Insel Barbados von Mobilmachung für den Weltkrieg die Rede war“, so Franziska Augstein, Leiterin des Ressorts Politisches Buch bei der Süddeutschen Zeitung und Jurymitglied des Lessing-Preises für Kritik.

Eine der Fragen lautete, ob die Menschen bereits 1914 wussten, wie grausam der Krieg würde. „Man hatte Ahnung, wie schrecklich es werden könnte“, erklärte Clark. Der Australier führte den Bestseller „Das Menschenschlachthaus“ ins Feld, in dem der Autor Wilhelm Lamszus bereits 1912 die Schrecken des Ersten Weltkriegs vorweg genommen hatte. „Doch die Menschen haben den Krieg damals nicht genug gefürchtet.“

Gerhard Hirschfeld, lehrte am Historischen Institut der Universität Stuttgart und ist zusammen mit Gerd Krumeich Verfasser der 2013 erschienenen Untersuchung „Deutschland im Ersten Weltkrieg“, wies auf die „Zweigesichtigkeit“ der 1914 bis 1918 zum Einsatz gekommene Waffentechnik hin. „Im Kriegsverlauf gab es unzählige Weiterentwicklungen. Dies war ein Quantensprung in der Anwendungsfähigkeit.“ Doch zu Kriegsbeginn sei man zum Teil noch mit Morgenstern und Brustpanzer aufeinander losgegangen.

„Die Generation war nicht die der Schlafwandler. Der Deutsche Militarismus war mühsam aufgebaut worden und darüber hinaus besonders ausgeprägt“, betonte Franziska Augstein, Tochter des Spiegel-Herausgebers Rudolf Augstein. Auch Gerhard Hirschfeld übte Kritik an Clarks Covertitel. „Zwischen dem 28. Juni 1914 [Anmerk. der Red.: der Tag des Attentats von Sarajevo auf den Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este] und dem 1. August 1914 [der deutsche Kriegsbeginn] gab es keine lineare Linie, wie sie in Clarks Buch beschrieben wird“, sagte Hirschfeld. „Es gab sehr wohl Optionen, den Krieg zu verhindern.“ Hirschfeld fügte mit einem Lächeln hinzu: „‚Die Zocker‘ würde da schon besser passen“. Clark nahm die Titelkritik im Sinne der Wissenschaft, in der eine gesunde, angemessene Streitkultur dazugehört, merklich gelassen zur Kenntnis. „Hans-Ulrich Wehler hat mir wenige Wochen vor seinem Tod einen freundlichen Brief geschrieben“, konterte Clark und erwähnte Wehlers Zugeständnis süffisant: „Er schrieb mir: Die Sache mit Serbien, da haben Sie recht.“

Viele Besucher nutzten die Gelegenheit, sich von dem publikumsnahen Christopher Clark eine Ausgabe des Werkes „Die Schlafwandler“ signieren zu lassen.

Ein kurzweiliger und mit vielen neuen Details zum Ersten Weltkrieg gespickter Geschichts-Nachmittag, der die Form der Podiumsdiskussion dank der Lessing-Akademie e.V. und der Stiftung STIFTUNG NORD/LB • ÖFFENTLICHE hat wiederaufleben lassen – und der nach baldiger Wiederholung ruft.

Bilboard 2 (994x118 px)