Startseite Gesellschaft & Lebensstil „Wir alle sind hier“

„Wir alle sind hier“

Theaterpädagogisches Zentrum, Büro für Migrationsfragen, Céline Bartholomaeus, Johanna Dora Dieme, LOT-Theater
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Ein Theaterprojekt für Frauen aus unterschiedlichen Ländern feiert am 12. März im LOT-Theater Premiere.

Als Ghada (42) sich an den Tag erinnert, als ihre zweijährige Tochter aus dem zweiten Stock stürzte, ist es ganz still im Probenraum. Sie rannte aus der Wohnung, schlüpfte in die Schuhe des Nachbarn, die vor seiner Tür standen. Größe 44, egal, bloß zu dem Kind. Kein Kopftuch auf dem Haar, indem Moment egal für die Muslima, bloß zu dem Kind. Sie rannte zum Krankenhaus. Das Kind blieb unversehrt.
Als Ghada aus dem Scheinwerferlicht tritt, hat nicht nur sie geweint. Die anderen Frauen nehmen sie in den Arm, die Spannung löst sich erst allmählich, zu eindringlich die Erinnerung, zu berührend die Szene. Zeit für eine Probenpause.

Die Szene ist eine von vielen, die derzeit für die Premiere des Stücks „Wir alle sind hier“ im Theaterpädagogischen Zentrum (TPZ) in Braunschweig geprobt werden. In diesem Sprachtheater forschen fünf Frauen aus Rumänien, Ägypten, Russland und dem Kosovo in ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nach „Schlüsseldienst, Pirogi und koreanische Hochzeitsblumen“ ist dies die zweite Premiere des Kooperationsprojekts von Spielraum TPZ und dem Büro für Migrationsfragen.

Ausgangspunkt bei der Konzeption des Stücks war die Frage: Wann gehört man eigentlich dazu? Wann ist man angekommen in dieser Stadt? Céline Bartholomaeus und Johanna Dora Dieme, die das Projekt leiten, formulieren es so: „Egal, wo man herkommt, ob einen die Sprache verbindet, welche Vergangenheit man mit sich trägt, das ist eigentlich alles ganz egal, denn letztlich zählt nur: Wir alle sind hier.“ Die achtjährige Tochter einer Teilnehmerin wird es während des Stücks auf wunderbar kindlichklare Weise auf den Punkt bringen: „Wenn man da ist, ist man da!“ Diese weise Wahrheit lässt der mitunter aufgeblasenen Integrationsrhetorik herrlich die Luft raus, denn sobald Menschen in dieser Stadt leben, sind sie diese Stadt. Nicht zu Gast, nicht außen vor – sondern mittendrin.

Auf der Bühne wird die Stadt mit einem Stadtplan von Braunschweig visualisiert. Die Frauen markieren dort mit Kreppband ihre Wohnungen, ihre Lieblingsorte. Mit den Mitteln biografisch-dokumentarischen Theaters wird das Publikum die Frauen kennenlernen. In einer flott getakteten Pantomime tauchen wir in den Tagesrhythmus der Frauen ein: kochen, Kinder zur Kita bringen, Wäsche waschen, Haare waschen, Slalom mit dem Einkaufswagen durch den Supermarkt, radeln, Internet, lesen. „Mach die Bewegungen schön groß“, ermuntert Johanna Dieme freundlich Andreea aus Rumänien. „Ruhig mehr Drama!“ Die Frauen kichern. „Unter der Dusche mache ich kein Drama“, lacht Andrea (41). Schöner Nebeneffekt dieser theaterpädagogischen Arbeit: Die Sprache wird spielerisch gelernt. Das spürt man auch während der Feedbackrunde am Ende der Probe: Die Frauen helfen sich gegenseitig auf die Sprünge, nehmen die Worte „pingelig“ und „Gleichgewicht“ en passant als neue Vokabeln mit nach Hause.

Auf einer Bühne brechen Sprachbarrieren während der intensiven Proben zwangsläufig ein. Sich vor Publikum so zu öffnen, Intimes preiszugeben und das nicht mal in der Muttersprache, kostet bestimmt Mut und Überwindung. Wird aber gewiss mit Kraft, Energie und einem erstarkten Selbstbewusstsein belohnt.

Die Aufführung mit dokumentarischen und fiktionalen Elementen hält die Balance zwischen starken Gefühlen wie bei den Erzählungen der negativen Erlebnisse im Leben, und heiteren Spielszenen. Ein Thema werden auch die Lieblingsorte der Frauen sein. Die Frauen erzählen, wie sie im Sommer im Café sitzen, lachen, streiten, den Kuchen genießen, die Wärme auf der Haut, das Zwitschern der Vögel. Wie sie aufgehen in dieser Stadt. Eine junge Russin sammelt Energie beim Joggen, sie liebt diese Plätze für Sport des TU-Sportzentrums. Und Andrea freut sich, Schnee unter den Füßen zu spüren. Sie ist extra drei Busstationen eher ausgestiegen, um den Knirsch unter den Sohlen zu hören. „Ich kann wieder atmen“, sagt sie und holt mit allen anderen tief Luft, „ich fühle mich wie zu Hause.“

Gefördert wird das Theaterprojekt unter anderem von der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz, dem städtischen Büro für Migrationsfragen, der Versicherung Öffentliche.

Premiere ist am 12. März, 19.30 Uhr, im LOT-Theater, Kaffeetwete 4a, Karten unter 05 31 17303.

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