Auch ohne Turm mächtig und dominant

St. Aegidien mit dem romanischen Ostflügel, der den großen Stadtbrand 1278 überstand. Foto: Elmar Arnhold

Die heraus­ra­genden Kirchen im Braun­schweiger Land, Teil 5: Keine andere Kirche in Braun­schweig hat so vielen artfremden Nutzungen gedient wie St. Aegidien.

Trotz der vierspu­rigen August­straße, die den histo­ri­schen Aegidi­en­markt auf unsen­sible Art trennt, dominiert die gotische Aegidi­en­kirche mit ihrem gewal­tigen Sattel­dach und ihrem erhöhten Standort noch immer das alte Zentrum der mittel­al­ter­li­chen Teilstadt Altewiek. Zwar wurden nahezu alle Gebäude des histo­ri­schen Markt­platzes bei einem Luftan­griff im März 1945, also nur einen Monat vor dem Kriegs­ende in Braun­schweig, zerstört, aber wie durch ein Wunder, überstand die Kirche die Bombar­die­rungen nahezu unbeschadet. Sie ist Anker der Tradi­ti­ons­insel Aegidi­en­viertel, die sich westlich erstreckt. Keine andere Kirche in Braun­schweig hat in seiner Geschichte so vielen artfremden Nutzungen gedient wie St. Aegidien.

Nordan­sicht der Aegidi­en­kirche. Foto Elmar Arnhold

Stall, Gefängnis und Museum

„Nach der Aufhebung des Klosters im Zuge der Refor­ma­tion (1529) diente St. Aegidien als Pfarr­kirche, seit 1718 auch als Garni­son­kirche. Nach der 1811 erfolgten Profa­nie­rung wurde sie zeitweise als Stallung und schließ­lich als Festhalle genutzt, während in den ehema­ligen Klausur­ge­bäuden das Kreis­ge­richts­ge­fängnis einge­richtet wurde. Spätes­tens in diesem Zeitraum gingen die älteren Ausstat­tungen verloren. Von 1906 bis 1945 war St. Aegidien Teil des ‚Vater­län­di­schen Museums‘. Seit 1945 ist sie katho­li­sche Pfarr­kirche, der erste Gottes­dienst fand am 12. Dezember 1948 statt“, schreibt Bauhis­to­riker Elmar Arnhold in seinem Standard­werk „Mittel­al­ter­liche Metropole Braun­schweig“. Das Buch bildet die Basis unserer Serie. Es wurde unter anderem von der Stiftung Braun­schwei­gi­scher Kultur­be­sitz und der Richard Borek Stiftung gefördert.

Heute beher­bergt das Kloster St. Aegidien auch die Außen­stelle des Braun­schwei­gi­schen Landes­mu­seums, in dem jüdische Geschichte präsen­tiert wird. Im Mittel­punkt steht die Innen­ein­rich­tung der Hornberger Synagoge, die 1924 vor der Zerstö­rung gerettet und ins damalige ‚Vater­län­di­sche Museum‘ überführt wurde. Der dafür genutzte Gebäu­de­kom­plex wurde nach rund einjäh­riger Sanierung mit der neuen Dauer­aus­stel­lung „Ein Teil von uns. Deutsch-jüdische Geschichten aus Nieder­sachsen“ 2021 wieder­eröffnet.

Das Langhaus. Foto: Elmar Arnhold

Bruno­ni­sche Markgräfin stiftete

Die Aegidi­en­kirche entstand um 1115 zunächst im romani­schen Baustil und diente ursprüng­lich als Gottes­haus des Benedik­ti­ner­klos­ters. Gebaut wurde es auf der höchsten Erhebung über die Okernie­de­rung in weitem Umkreis. Das Areal lag außerhalb der Stadt­mauern und war unbesie­delt. Die bruno­ni­sche Markgräfin Gertrud die Jüngere stiftete das Kloster zu Ehren der Mutter­gottes Maria. Bei der Gründung dabei war auch ihr Schwie­ger­sohn, der spätere Kaiser Lothar III. von Süpplin­gen­burg. Schon damals galt der Heilige Aegidius als Haupt­pa­tron des Klosters, nach 1200 kam der Braun­schweiger Stadt­hei­lige St. Auctor hinzu.

Ostflügel aus dem Jahr 1160

Der Chor. Foto Elmar Arnhold

Nach der Zerstö­rung durch den großen Stadt­brand 1278, den lediglich der noch heute existie­rende Ostflügel (gebaut um 1160), erfolgte von 1282 bis 1300 der Neubau mit Chor und Querhaus in basili­kalem Aufriss. Im romani­schen Ostflügel befinden sich Sakristei, Kapitel­saal, Parla­to­rium (Sprech­saal) und Refek­to­rium (Speise­saal) sowie der erhaltene Teil des Kreuz­ganges (Landes­mu­seum).

Der Chor ist das einzige Beispiel der Kathedral-Gotik in Braun­schweig. Danach kam es zu einer Planän­de­rung. Es wurde statt einer Basilika ein Langhaus als Hallen­kirche in zwei Bauab­schnitten bis 1478 gebaut. Ein Westbau, der zwei Türme vorsah, war zwar begonnen worden, wurde aber nie beendet. „Ältere Ansichten zeigen provi­so­risch wirkende Aufsätze, in denen das Geläut aufge­hängt war, Das fragmen­ta­ri­sche Turmwerk wurde schließ­lich 1817 bis auf die heute sicht­baren Mauer- und Bogen­sätze abgebro­chen“, erläutert Elmar Arnhold in „Mittel­al­ter­liche Metropole Braun­schweig“.

„Ungemein wuchtiger Baukörper“

Blick in das Dachwerk. Foto Elmar Arnhold

„Die Halle des Langhauses zeigt sich als ungemein wuchtiger Baukörper, dessen Wirkung mit dem hohen Dach noch gestei­gert wird“, formu­liert Elmar Arnhold weiter. Damit besitzt Braun­schweig eine der größten spätmit­tel­al­ter­li­chen Dachkon­struk­tionen Norddeutsch­lands. Das gewaltige, 18 Meter hohe Dachwerk der Aegidi­en­kirche stellt eine hölzerne Kathe­drale über der steinernen Kirche dar. Die vom Bistum Hildes­heim an das TU-Institut für Holzbau und Baukon­struk­tionen in Auftrag gegebene dendro­chro­no­lo­gi­sche Unter­su­chung (Jahres­ring­chro­no­logie) ergab im vergan­genen Jahr, dass die Bauhölzer für das große Hallen­dach zwischen 1512 und 1514 gefällt wurden. Die Hölzer wurden erfah­rungs­gemäß frisch verbaut. Damit ist die aktuelle Dachkon­struk­tion von St. Aegidien älter als 500 Jahre.

Auch deswegen trifft sich der Arbeits­kreis Dachwerke am kommenden Wochen­ende zu seiner Jahres­exkur­sion auf Einladung von Elmar Arnhold in Braun­schweig. Bauhis­to­riker und Archi­tekten aus dem Bundes­ge­biet besich­tigen von Freitag bis Sonnabend die Dachwerke vom Hunebors­tel­schen und vom Veltheim­schen Haus auf dem Burgplatz, von St. Aegidien und vom Dom St. Blasii sowie in Helmstedt von St. Stephani und vom Juleum.

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