Braun­schweig baut wieder auf!

Blick auf die zerstörte Stadt (hier Fallersleber Straße). Repro: IBR
Blick auf die zerstörte Stadt (hier Fallersleber Straße). Repro: IBR

75 Jahre Kriegs­ende, Folge 8: 1,5 Millionen Kubik­meter Trümmer­massen mussten in der Stadt wegge­räumt werden.

Schon im Oktober 1945 schrieb Braun­schweigs damaliger Oberbür­ger­meister Dr. Ernst Böhme einen bemer­kens­werten Beitrag zur Situation der Menschen in der Stadt nach dem Kriegs­ende und die großen Probleme, die der Wieder­aufbau mit sich bringen würde. „Wir wollen den Nazis nicht den Gefallen tun, zu verzwei­feln und vor der Größe der Aufgabe zu verzagen, denken vielmehr an den alten Spruch der Braun­schweiger: Nicht nahlaten!“ So schließt er seinen Bericht. Wir veröf­fent­li­chen ihn an dieser Stelle wohl erstmals in vollem Wortlaut:

„Das ganze Ausmaß unseres Sturzes ist vielen Deutschen noch nicht aufge­gangen, erst der kommende Winter wird manchem den Umfang der Katastrophe ganz enthüllen, wenn die aus dem Osten vertrie­benen Deutschen auch noch an den kümmer­li­chen Resten unseres Wohnraumes, unserer Ernährung, Kleidung und anderer Lebens­be­dürf­nisse teilhaben wollen und müssen. Schon jetzt aber stauen sich im Rathaus die Wogen der Forde­rungen und Wünsche von drei Seiten her: Die Befehle des Siegers verlangen gebie­te­risch vordring­liche Befrie­di­gung, die Sorge um das Wohl unserer Einwohner steht uns als Haupt­auf­gabe am nächsten, das Mitleid mit unseren deutschen Flücht­lingen erfordert tatkräf­tige Hilfe­leis­tung.

Fürsorge für Kranke, Schwache, Kriegs­be­schä­digte

Schon die laufenden Aufgaben des Oberbür­ger­meis­ters einer zerstörten Stadt sind jetzt so ungeheuer schwer wie noch nie im deutschen Dasein. Von der Instand­set­zung des Verwal­tungs­ap­pa­rates an über die ständige Sicherung der Ernährung, der Gas‑, Wasser- und Strom­ver­sor­gung, die Wieder­be­le­gung des Straßen­bahn- und Autotrans­port­we­sens die Sorge um Kohle, Treib­stoff und Reifen, über die Wieder­errich­tung des Schul- und Fachschul­un­ter­richts, den Ausbau der Kranken­häuser, Vorsorge vor Epidemien, gerechte Erfassung und Vertei­lung des Wohnraums bis zur Fürsorge für Kranke, Schwache, Kriegs­be­schä­digte und Verwaiste, Opfer des Faschismus und Flücht­linge; ganz zu schweigen von den Sorgen der Finan­zie­rung, das alles erfordert ein tägliches Unmaß laufender Verwal­tungs­ar­beit, für das der Menschen­an­drang im Rathaus ein Barometer sein kann. Und das alles außer den Requi­si­tions- und Kontroll­be­fehlen der Besetzung.

Meine erste Äußerung in der neuen Braun­schwei­gi­schen Zeitung soll sich deshalb mit diesem Thema befassen, dass die verant­wor­tungs­be­wussten Braun­schweiger Bürger sicher stärks­tens inter­es­sieren wird. Wenn die Stadt Braun­schweig in Wieder­be­le­bung und Wieder­aufbau an erster Stelle unter den deutschen größeren Städten der engli­schen und ameri­ka­ni­schen Zone steht, so beruht das auf der neben den Tages­ge­schäften geleis­teten planenden und organi­sa­to­ri­schen Wieder­auf­bau­ar­beit der Stadt­ver­wal­tung. Aber neben dieser laufenden Arbeit steht diejenige, die das Bild der Stadt auf Jahrhun­derte hinaus festlegen wird: der Wieder­aufbau!

Gewaltige Aufbau­leis­tung erfor­der­lich

In der Stadt Braun­schweig sind von 59.000 Wohnungen 26.000 gänzlich verloren, 9.000 nur mit großem Aufwand wieder­her­stellbar, 15.000 leicht beschä­digt worden und nur 9.000 unbeschä­digt geblieben. Um 200.000 Einwohner unter­zu­bringen, müssen 40.000 Wohnungen gebaut, ferner 50 Prozent der gewerb­li­chen Bauten und 60 Prozent der öffent­li­chen Bauten wieder errichtet werden.

Versucht man den Aufwand des Wieder­auf­baus zu schätzen, so kommt man zu erschre­ckenden Zahlen: Die Kosten können etwa eine halbe Milliarde Reichs­mark betragen. 1,5 Millionen Kubik­meter Trümmer­massen sind aufzu­räumen. Die Heran­schaf­fung des Bauma­te­rials erfordert die Leistung von etwa einer Million Eisen­bahn­wagen. Ferner müssen etwa 30 Millionen Tagewerke geleistet werden: Das ergäbe bei 7.000 Baufach­ar­bei­tern (so viele hatte Braun­schweig vor dem Krieg) etwa 14 Jahre Aufbau­zeit. Jetzt hat Braun­schweig aber kaum 1.000 Baufach­ar­beiter – also müssen mehr Kräfte ans Werk oder es dauert noch länger.

Wieder­aufbau muss planvoll geschehen!

Das alte Braun­schweig kann nicht wieder aufgebaut werden: Der mittel­al­ter­liche Kern mit den schönen Fachwerk­bauten ist zerstört und nicht wieder­her­stellbar. Es sollen auch nicht wieder erstehen die unzuläng­li­chen Straßen­züge, die ungesunden Wohn- und Arbeits­stätten, die licht­losen Höfe und andere Mängel groß-städti­scher Entwick­lung. Darum ist in sorgfäl­tiger Arbeit ein neuer Plan aufge­stellt, der die alten Baudenk­mäler schont, auf wirtschaft­liche Werte Rücksicht nimmt, sonst aber tief in Altge­wohntes eingreifen muss, um die nicht wieder­keh­rende Gelegen­heit zu benutzen, einen gesunden und leistungs­fä­higen Stadt­or­ga­nismus zu schaffen.

Neue gesetz­liche Regelungen sind hierfür zu erwarten. Der Wieder­auf­bau­plan zielt auf eine Verbes­se­rung des Verkehrs der Straßen und Bahnan­lagen, nimmt eine sinnvolle Vertei­lung der Wohn‑, Geschäfts- und Gewer­be­ge­biete sowie der Grünflä­chen vor, lockert die Bebauung auf und gliedert die Baumasse der Großstadt in überschau­bare, lebendige Einheiten. Damit das Neue entstehen kann, müssen unzweck­mäßig bemessene und zugeschnit­tene Grund­stücke umgelegt werden, anstelle hoher und enger Bebauung muss oft eine niedri­gere, weiträu­mi­gere entstehen, wobei möglichst viele Wohnungen Hausgärten erhalten sollen.

Neue Schön­heiten sollen entstehen

Die Wasser­läufe und andere landschaft­liche Reize sollen im Stadt­bilde mehr in Erschei­nung treten, die öffent­li­chen und Kultur­bauten zu stärkerer Wirkung kommen – alles in allem: Anstelle der alten sollen neue Schön­heiten geschaffen werden!
Wieder­auf­bau­maß­nahmen werden nach Dring­lich­keits­stufen durch­ge­führt.
Um dies zu erreichen, ist viel Zeit, Geduld und Einsicht nötig. Da Braun­schweig sich mit anderen ebenso hart betrof­fenen Großstädten in die knapp gewor­denen Baufach­ar­beiter und Baustoff teilen muss, ist eine Rangord­nung der Bauvor­haben nach der Dring­lich­keit notwendig: Außer den Bauten der Militär­re­gie­rung sind die lebens­wich­tigen Betriebe und Verkehrs­an­lagen, die öffent­li­chen Ein-richtungen (Kranken­häuser, Schulen, Verwal­tungs­ge­bäude usw.) wieder­her­zu­stellen, vor allem aber die zerstörten Wohnungen!

Das einfachste Mittel, möglichst schnell den Wohnungs­mangel zu mildern, ist die Instand­set­zung der leicht beschä­digten Wohnhäuser. Unter Aufsicht und Leitung der Stadt werden alle verfüg­baren Kräfte angesetzt, um zu verhüten, dass Erhal­tens­wertes durch Witte­rungs­ein­flüsse weiter zerstört wird. Außen­re­pa­ra­turen an Dächern und Fenstern sind am dring­lichsten. Hieran müssen alle mithelfen, auch dadurch, dass sie andere Bauwün­sche zurück­stellen. Zuerst kommen bewohnte und weniger beschä­digte, dann unbewohnte und stärker beschä­digte Häuser an die Reihe. Von wenigen begrün­deten Ausnahmen abgesehen, kann der Ausbau ganz ausge­brannter Häuser und vollstän­diger Neubau bis auf weiteres nicht zugelassen werden.

Nicht behelfs­mäßig bauen

Provi­so­ri­sche Bauten müssen vermieden werden: Sie nehmen Bauar­beiter und Baustoffe in Anspruch, verzögern dadurch den endgül­tigen Aufbau und bringen überdies die Gefahr, dass sie jahrzehn­te­lang zum allge­meinen Ärgernis bestehen bleiben. Dagegen wird es sich nicht umgehen lassen, während der Wieder­auf­bau­zeit behelfs­mäßig zu wohnen: Normale Wohnungen werden durch bauliche Maßnahmen so einge­richtet, dass sie doppelt belegt werden können. Ferner dürfen planmäßig gebaute Lauben (sog. Behelfs­heime) in Dauer­klein­gar­ten­an­lagen bewohnbar gemacht werden, – alles, um mit dem geringsten Aufwand zunächst recht viele Familien unter­zu­bringen. Später werden diese Doppel­be­le­gungen verrin­gert und die Behelfs­heime wieder in Lauben zurück­ver­wan­delt.

Die endgül­tigen Bauten müssen sparsam, schlicht und zweck­mäßig sein. Handwerk und Industrie werden die ratio­nellsten Baume­thoden anwenden müssen, und die wohlor­ga­ni­sierte Großbau­stelle wird vielen kleinen Einzel­bau­vor­haben vorzu­ziehen sein. Alten und neuen gemein­nüt­zigen Bauge­nos­sen­schaften und Bauge­sell­schaften bietet sich ein dankbares Arbeits­feld. Baufach­ar­beiter, Selbst­hilfe und Bauma­te­rial müssen planmäßig einge­setzt werden! Bei dem großen Mangel an Baufach­ar­bei­tern und Bauma­te­rial ist eine straffe Lenkung und Zuweisung durch das Stadt­bauamt erfor­der­lich. Wer diese Maßnahmen missachtet, Schwarz­ar­beiter beschäf­tigt, von Bauge­schäften einzelne Handwerker freizu­be­kommen sucht und Baustoffe unrecht­mäßig beschafft, schädigt die Allge­mein­heit und macht sich strafbar.

Dagegen ist es unbedingt notwendig, dass jeder, der dazu in der Lage ist, selbst mithilft. Natürlich muss diese Selbst­hilfe geordnet einge­setzt werden, sonst führt sie zu Pfuscherei und Vergeu­dung von volks­wirt­schaft­li­chem Gut. Wildes Bauen stört – auch in den Trümmer­halden – und verzögert den planvollen Wieder­aufbau. Daher muss nun hier den Anwei­sungen der städti­schen Bauver­wal­tung und der sonstigen Fachleute willig gefolgt werden. Geneh­mi­gungs­frei sind nach Anweisung der Militär­re­gie­rung nur Unter­hal­tungs- und Instand­set­zungs­ar­beiten mit einer Bausumme bis zu 400 Reichs­mark, die in Selbst­hilfe ausge­führt werden. Hierfür sind die Baustoffe schrift­lich beim Stadt­bauamt (Baustoff­leit­stelle) anzufor­dern.

Helft mit, die Straßen freizu­ma­chen

Voraus­set­zung für den planvollen Wieder­aufbau ist die Aufräu­mung der Trümmer und ihre möglichst weitge­hende Verwer­tung am Orte des Aufkom­mens. In der inneren Stadt – innerhalb der Okerum­flut­gräben – führt die Stadt­ver­wal­tung eine großzügig organi­sierte Räumungs­ak­tion durch und trägt unter bestimmten Voraus­set­zungen die Kosten. Es muss erwartet werden, dass die Bevöl­ke­rung diese Arbeiten fördert und nicht durch eigen­mäch­tige Maßnahmen hindert, sich auch nicht in straf­barer Weise an fremdem Eigentum vergreift: In den Außen­be­zirken müssen die Grund­stücks­ei­gen­tümer selbst Hand anlegen, sie können jedoch in beson­deren Fällen von der Stadt­ver­wal­tung finan­ziell unter­stützt werden. Auch hierbei ist den behörd­li­chen Anwei­sungen Folge zu leisten, vor allem bei der Abfuhr nach den zugewie­senen Plätzen.

Ordnung und Sauber­keit als Grundlage

Der Schutt auf den Straßen, Plätzen und Grünan­lagen in den bewohnten Stadt­teilen muss ebenfalls in kürzester Zeit aufge­räumt werden. Er verun­staltet das Straßen­bild, stört den Verkehr und ist eine Quelle von Krank­heiten. Darum werden die Einwohner aufge­for­dert, mitzu­helfen und nach Anweisung die Straßen und Vorgärten von Schutt freizu­ma­chen. Diese Aktion soll möglichst auf Freiwil­lig­keit beruhen, sodass dem zu erwar­tenden zwangs­weisen Einsatz zuvor­ge­kommen wird. Erst auf der Grundlage von Ordnung und Sauber­keit können die weiteren Wieder­auf­bau­pläne verwirk­licht werden.

Organi­sa­to­ri­sche Maßnahmen

Den Komplex „Wieder­aufbau“ habe ich in folgende Teilge­biete geglie­dert.

  1. Organi­sa­to­ri­sche,
  2. Recht­liche Grund­lagen,
  3. Finan­zie­rung,
  4. Planung,
  5. Trümmer­auf­räu­mung,
  6. Materi­al­be­schaf­fung,
  7. Beschaf­fung von Arbeits­kräften,
  8. Reparatur beschä­digter Wohnungen,
  9. Baume­thoden,
  10. Hausrat.

Nach der jetzigen Gemein­de­ver­fas­sung habe ich für die gesamte Stadt­ver­wal­tung die volle und ausschließ­liche alleinige Verant­wor­tung. Eine Stadt­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung steht mir noch nicht zur Seite. Um aber für die gewaltige Aufbau­ar­beit von vornherein die Mitarbeit der besten Fachkräfte und das Einver­nehmen mit breiten Kreisen der Einwoh­ner­schaft zu sichern, habe ich für die Mitarbeit an diesen Aufgaben einen „Beirat für den Wieder­aufbau“ und folgende Unter­aus­schüsse einge­setzt:

  • Planungs­aus­schuss,
  • Ausschuss für Trümmer­auf­räu­mung,
  • Rechts­aus­schuss,
  • Finan­zie­rungs­aus­schuss,
  • Wohnungs­wirt­schafts­aus­schuss.

Alle Ausschüsse haben unter meinem Vorsitz bereits mehrmals, zum Teil sogar häufig, getagt und gute Vorarbeit geleistet. Auch nach außen hin sind die ersten Zeichen dieser Arbeit bereits sichtbar. Bald wird die Mitarbeit der Einwohner auf breiter Basis aufge­rufen werden.

Schmäh­li­cher Abgang der Hitler-Tyrannei

Die Hitler-Tyrannei hat ihren schmäh­li­chen Abgang mit einer Art Weltun­ter­gang für Deutsch­land verbrämen wollen. Zu einem Teil ist ihr das geglückt. Die furcht­bare Selbst­ver­nich­tung der deutschen Vermö­gens­sub­stanz hat uns in die aller­schwie­rigste Situation gebracht, die jemals ein Volk und eine Verwal­tung zu bewäl­tigen hatte. Wir wollen den Nazis nicht den Gefallen tun, zu verzwei­feln und vor der Größe der Aufgabe zu verzagen, denken vielmehr an den alten Spruch der Braun­schweiger: Nicht nahlaten!“

Prof. Dr. h.c. Gerd Biegel ist Gründungs­di­rektor des Instituts für Braun­schwei­gi­sche Regio­nal­ge­schichte und Geschichts­ver­mitt­lung an der TU Braun­schweig.

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