Das Herzogtum Braun­schweig und die Indus­tri­elle Revolu­tion

Spargelschälerinnen in der Konservenfabrik Krone & Co. Foto: Stadtarchiv Braunschweig

Entschei­dende Voraus­set­zung für die wirtschaft­liche Entwick­lung war die Verbes­se­rung der Infra­struktur des Verkehrs­we­sens.

Als Nachfolger des vertrie­benen Herzogs Karl II. übernahm dessen Bruder Wilhelm 1831 die Regierung im Herzogtum Braun­schweig, das er bis zu seinem Tode 1884 umsichtig regierte. Unter seiner Herrschaft erhielt das Land mit der »Neuen Landschafts­ord­nung« von 1832 eine konsti­tu­tio­nelle Verfas­sung, die Bürger und Bauern Mitbe­stim­mung gewährte und in der Forschung oft als liberalste Verfas­sung des 19. Jahrhun­derts bezeichnet wird. Stärker noch als die politi­schen Verän­de­rungen sollten sich in der Folgezeit jedoch die wirtschaft­li­chen und sozialen Umwäl­zungen im Herzogtum Braun­schweig auswirken, die als Folge der Indus­tria­li­sie­rung zu sehen sind.

Die Einfüh­rung der Dampf­ma­schine durch den Engländer James Watt Ende des 18. Jahrhun­derts schuf eine der wichtigsten techni­schen Voraus­set­zungen für den Indus­tria­li­sie­rungs­pro­zess. Mit dem Aufblühen der Baumwoll- und Schwer­me­tall­in­dus­trie begann in England am Anfang des 19. Jahrhun­derts die Indus­tri­elle Revolu­tion, die sehr rasch ihre Auswir­kungen über die Insel hinaus zeigen sollte. Entspre­chend setzte etwa in Deutsch­land der Indus­tria­li­sie­rungs­pro­zess zeitlich verzögert ein, und so kann man für das Herzogtum Braun­schweig eigent­lich erst seit der Mitte des Jahrhun­derts davon sprechen.

Braun­schweigs erster Bahnhof 1838. Er wurde bereits 1845 durch den bekannten „Alten Bahnhof“, der ebenfalls von Ottmer stammt, ersetzt. Kupfer­stich von 1838. Foto: gemeinfrei/Wikipedia

von Amsbergs Planungen

Entschei­dende Voraus­set­zung für die wirtschaft­liche Entwick­lung war die Verbes­se­rung der Infra­struktur des Verkehrs­we­sens, insbe­son­dere zur Erschlie­ßung der Rohstoff­la­ger­stätten und zur Anbindung an inter­na­tio­nale Verkehrs­wege. In diesem Sinne verfasste seit 1824 August Philipp Christian Theodor von Amsberg mehrfach Schriften und Planungen zur Anlegung einer Eisenbahn von Hannover und Braun­schweig über Celle und Lüneburg nach Harburg und Hamburg. 1832 legte er eine gedruckte Planung vor mit weitrei­chenden Ideen, von denen jedoch nur die Strecken­füh­rung zum Harz reali­siert werden konnte.

Die Eröffnung der Strecke der ersten Deutschen Staats­ei­sen­bahn von Braun­schweig nach Wolfen­büttel erfolgte am 1. Dezember 1838 im Beisein von Herzog Wilhelm. Erst allmäh­lich – und gegen den Wider­stand der Fuhrleute, die um ihre Existenz fürch­teten – setzte sich die Güter­be­för­de­rung durch, insbe­son­dere nachdem zusätz­lich im Juli 1843 die Strecke Wolfen­büttel – Schöp­pen­stedt – Jerxheim – Oschers­leben in Betrieb genommen worden war. Damit war die wichtige Verbin­dung nach Berlin geschaffen. Schon Mitte des 19. Jahrhun­derts verfügte das Herzogtum Braun­schweig nach Belgien über das dichteste Eisen­bahn­netz Europas. Dies war eine wichtige Voraus­set­zung für den indus­tri­ellen Aufschwung. Auch der Handel profi­tierte von dieser Entwick­lung, konnten die Waren doch nun in größerer Menge, schneller und letztlich preis­güns­tiger über weite Strecken trans­por­tiert werden, insbe­son­dere zu den Seehäfen Bremen und Hamburg.

„Moderne“ Wirtschafts­ent­wick­lung

Die zu diesem Zeitpunkt einset­zende „moderne“ Wirtschafts­ent­wick­lung bedeutete den Übergang von der überwie­gend agrari­schen Struktur zur arbeits­tei­ligen Indus­trie­pro­duk­tion. Harzbergbau, Braun­koh­le­funde bei Helmstedt, Kalifunde im Gebiet Wolfen­büttel, Salzvor­kommen und eine gute Boden­be­schaf­fen­heit waren neben einer soliden Handwerks­tra­di­tion entschei­dende Voraus­set­zungen dafür, dass sich die schließ­lich für die Region typischen Indus­trie­zweige entwi­ckeln konnten.

Mitar­beiter der Firma Jüdel & Co. Foto: Stadt­ar­chiv Braun­schweig

Mit dem Beitritt zum Deutschen Zollverein 1841 wurde im Herzogtum Braun­schweig die Einfuhr von billigem Rohrzu­cker unter­bunden. Damit begann in den 1850er und 1860er Jahren die wirtschaft­lich bedeut­same Umstel­lung in der Landwirt­schaft vom exten­siven Getreide- zum inten­siven Zucker­rüben- und Gemüse­anbau. Im Jahre 1864 wurde im Herzogtum die Gewer­be­frei­heit einge­führt. Die bis zu diesem Zeitpunkt eher zögerlich verlau­fende Indus­tria­li­sie­rung setzte mit einer Reihe von Fabrik­grün­dungen verstärkt ein. Von 1832 bis 1874 stieg die Zahl der einge­setzten Dampf­ma­schinen in der Stadt Braun­schweig von einer auf 190 an.

Aus der Verar­bei­tung landwirt­schaft­li­cher Produkte entstanden wichtige Indus­trie­be­reiche im Herzogtum Braun­schweig. 1882 gab es im Herzogtum Braun­schweig bereits 29 Konser­ven­fa­briken, 1899 waren es 42 und 1914 schließ­lich 52. Die Folge war die Entwick­lung von Fabriken zur Herstel­lung von Ferti­gungs­an­lagen für die Konser­ven­in­dus­trie. Aber auch die aufblü­hende Zucker­in­dus­trie und die Landwirt­schaft überhaupt benötigten vielfäl­tige neue Maschinen, so dass der Maschinen- und Anlagenbau einen entspre­chenden Aufschwung nahm.

Nr. 1 war der Zucker­rü­ben­anbau

Im Vorder­grund stand der Zucker­rü­ben­anbau. Sehr bald schon befand sich im Herzogtum Braun­schweig (bis zum Ersten Weltkrieg) das größte Zucker­rü­ben­an­bau­ge­biet im Deutschen Reich. Weitere bedeut­same Wirtschafts­zweige waren das indus­triell arbei­tende Mülle­rei­wesen (1846 Gottlieb Luther in Wolfen­büttel), Landma­schi­nenbau (Firma Gebr. Welger, Wolfen­büttel), Textil­in­dus­trie, Jute- und Flachs­in­dus­trie. Bis auf wenige Beispiele – wie die 1864 gegrün­dete Firma Grimme, Natalis u. Co. (später Brunsviga) – entstanden fast alle Indus­trie­un­ter­nehmen des Herzog­tums aus ihrem Bezug zur Landwirt­schaft; die Keimzellen waren kleine Betriebe mit langer handwerk­li­cher Tradition.

Die Mobilität stellte für diese Epoche des wirtschaft­li­chen Aufbruchs eine entschei­dende Grundlage dar. Aber nicht nur die Eisenbahn nahm eine rasche Entwick­lung. Am 11. Oktober 1879 eröffnete die Pferde­bahn den öffent­li­chen Perso­nen­ver­kehr innerhalb der Stadt Braun­schweig, am 27. Oktober 1897 fuhr die erste Straßen­bahn zwischen Braun­schweig und Wolfen­büttel. Nachdem am 1. Mai 1903 der ehemalige Gasthörer des Collegium Carolinum und mittler­weile bedeu­tende Ingenieur und Unter­nehmer Heinrich Büssing seine Firma für den Bau von Nutzkraft­fahr­zeugen anmeldete, setzte eine weitere entschei­dende Entwick­lung ein. Noch im selben Jahr wurde der erste Lastwagen mit einem zweizy­lin­d­rigen Otto-Motor fertig gestellt. Büssing-Lastkraft­wagen wurden neben der Eisenbahn zum Haupt­trans­port­mittel für Güter. Am 3. Juni 1904 eröffnete Heinrich Büssing auf der Strecke Braun­schweig-Wendeburg die erste fahrplan­mä­ßige Kraft­om­nibus-Linie der Welt.

Bürgertum als Stabi­li­täts­faktor

Die Stabi­lität des neuen Bürger­tums im 19. Jahrhun­dert zeigte sich nicht nur während der revolu­tio­nären Bewegung 1830, auch im Revolu­ti­ons­jahr 1848 schuf es die Voraus­set­zung für einen weitge­hend ruhigen Ablauf. Das Bürgertum war Stabi­li­täts­faktor und zugleich treibende Kraft für politi­sche Reformen, wie sie sich in der „Neuen Landschafts­ord­nung“ 1832 nieder­schlug. 1848 wurde der Braun­schwei­gi­sche Arbei­ter­verein gegründet, Ausgangs­punkt zuneh­mender Organi­sa­tion der Inter­es­sen­ver­tre­tungen für Arbeit­nehmer. Wilhelm Bracke, die zentrale Figur der Braun­schweiger Sozial­de­mo­kratie, gründete 1865 einen Ortsverein des Allge­meinen Deutschen Arbei­ter­ver­eins.

Vier Jahre später legte er den Grund­stein für die Sozial­de­mo­kra­ti­sche Arbeiter Partei in Braun­schweig, die ein zuneh­mender Macht­faktor im gesell­schaft­li­chen Gefüge jener Zeit wurde. Dringend notwendig hatte sich die durch die Indus­tria­li­sie­rung heraus­bil­dende Arbei­ter­schaft in der Sozial­de­mo­kratie eine wichtige und tragfä­hige Inter­es­sen­ver­tre­tung geschaffen. Zwischen 1831 und der Reichs­grün­dung 1870/71 stieg die Bevöl­ke­rungs­zahl im Herzogtum Braun­schweig von ehemals 246.000 um mehr als 25 Prozent. In der Stadt Braun­schweig betrug die Steige­rungs­rate sogar mehr als 43Prozent. 1894 überschritt die Einwoh­ner­zahl erstmals 100.000. Braun­schweig war Großstadt.

Der erste Büssing-Omnibus fuhr von 1904 an regel­mäßig die Strecke Wendeburg-Braun­schweig. Foto: Braun­schwei­gi­sche Landschaft

Schlechte hygie­ni­sche Verhält­nisse

Bevöl­ke­rungs­explo­sion, soziale Not und schlechte hygie­ni­sche Verhält­nisse bestimmten in dieser hekti­schen Zeit das Leben besonders der Arbeiter. Die meisten der um 1890 ansäs­sigen Arbeiter lebten in erbärm­li­chen Verhält­nissen. So war 1892 nur jedes zweite Haus in der Altstadt an die städti­sche Wasser­ver­sor­gung angeschlossen. Die hygie­ni­schen Verhält­nisse, die unhalt­baren Wohnbe­din­gungen und die schlechte Ernäh­rungs­lage förderten Krank­heiten wie Typhus und Tuber­ku­lose, aber auch Pocken und Cholera bei den armen Bevöl­ke­rungs­schichten.

Die politi­schen Verhält­nisse befanden sich in einem grund­le­genden Wandel, die Indus­tria­li­sie­rung führte in die Zeit zuneh­mender Milita­ri­sie­rung, die dunklen Wolken der nächsten Zeiten zeigten sich bereits drohend im Hinter­grund.

Prof. Dr. h. c. Gerd Biegel ist Gründungs­di­rektor des Instituts für Braun­schwei­gi­sche Regio­nal­ge­schichte und Geschichts­ver­mitt­lung an der TU Braun­schweig.

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