Ein Friedhof zieht um…

Der Herzog von Cumberland, Vater von Ernst-August, zusammen mit seinem Sohn vor den Stufen, die hinab in die St. Martini-Kirche führen (1913/1914). Foto: Archiv Ostwald
Der Herzog von Cumberland, Vater von Ernst-August, zusammen mit seinem Sohn vor den Stufen, die hinab in die St. Martini-Kirche führen (1913/1914). Foto: Archiv Ostwald

Braun­schweigs skurrile Ecken und andere Merkwür­dig­keiten, Folge 24: Warum liegt die Martini-Kirche nicht ebenerdig?

Es gibt keinen Eingang in die St. Martini-Kirche, der ebenerdig liegt. Stets muss der Besucher ein paar Schritte hinab machen, um in das Gottes­haus zu gelangen. Es ist schwer vorstellbar, dass das von Anfang an so geplant war. Warum nur liegt die Kirche auf einem niedri­geren Niveau? Die Geschichte dahinter ist wahrlich skurril, denn sie hängt mit dem Umzug des einst auf dem heutigen Platz an der Marti­ni­kirche gelegenen Friedhof zusammen. Die Kirche steht auf dem Boden­ni­veau des Mittel­al­ters. Die Umgebung wurde aufge­schüttet, um die brach­lie­gende Fried­hofs­fläche auf unauf­fäl­lige Weise zu verändern. 1755 wies Herzog Carl I. die Pflas­te­rung der gesamten Innen­stadt an.

Ein großer Reformer Braun­schweigs

Während der Regie­rungs­zeit Herzog Carls I. von 1735 bis 1773 geschahen in Braun­schweig einige Dinge, die den Bürgern der Stadt bis zum heutigen Tag nutzen. Zwar gelang es dem Herzog zeitle­bens nicht, die Finanzen des Herzog­tums zu regeln, so dass sein Sohn Karl Wilhelm Ferdinand schließ­lich die Amtsge­schäfte übernehmen musste. Aber Herzog Carl war ein großer Reformer und setzte viele Dinge um.

Neben der Gründung des Collegium Caroli­nums 1745, der Porzel­lan­fa­brik Fürsten­berg, der Herzog­li­chen Brand­kasse (daraus entwi­ckelte sich die Öffent­liche Versi­che­rung) und der Herzog­li­chen Leihan­stalt (daraus entstand die Braun­schwei­gi­sche Staats­bank, schließ­lich die NordLB), hörte er zu, wenn sich seine Ratgeber  Gedanken über die Gesund­heit der Menschen im Herzogtum machten.

Man sprach im 18. Jahrhun­dert von Miasmen und meinte Krank­heits­er­reger, die es in der Luft und im Wasser gab. Um nun die durch das Atmen in den Körper des Menschen eindrin­genden Miasmen nicht noch unnötig durch solche aus dem Wasser zu vermehren, warnten die gelehrten Doktores dieser Zeit: Wasser und Friedhöfe sind der mensch­li­chen Gesund­heit abträg­lich!

Braun­schweigs Friedhöfe

Im Stadtkern der fünf Weich­bilde, die Braun­schweig bilden – also Altstadt, Neustadt, Hagen, Altewiek und Sack – gab es Friedhöfe. Ein größerer befand sich dort, wo wir heute den Domplatz mit der „Heinrich­linde“ finden. Noch immer fließt in dem Tunnel­system unter der Münzstraße die Oker in ihrem ursprüng­li­chen Lauf, aller­dings nun sehr reguliert und nur mit einem schmalen Rinnsal, während der Hauptteil des Wassers in die Umflut­gräben geschickt wird. Doch die unmit­tel­bare Nähe der erst im 19. Jahrhun­dert verrohrten Oker zum Domfriedhof konnte nicht gesund sein.

St. Martini und westliche Platzfront mit dem ehemaligen Kammergebäude. Foto: Elmar Arnhold
St. Martini und westliche Platz­front mit dem ehema­ligen Kammer­ge­bäude. Foto: Elmar Arnhold

Ein weiterer, ebenfalls großer Innen­stadt­friedhof befand sich hinter der gewal­tigen Pfarr­kirche der Altstadt, St. Martini. Diese Kirche, die wie die anderen Pfarr­kir­chen der Weich­bilde nach dem Vorbild des Domes im Mittel­alter errichtet und im Laufe der Jahrhun­derte immer wieder umgebaut und verändert wurde, lässt noch heute den Besucher ahnen, was sich auf dem Platz an der Marti­ni­kirche und dem sogenannten Eiermarkt einst befunden hat: Der große Friedhof der Gemeinde, der „Kirchhof zum Heiligen Geist“, sollte nun aufge­geben und vor die Tore der Stadt verlagert werden, der ursprüng­liche Friedhof selbst geschlossen werden. Doch wie sollte das in der Praxis geschehen? Wie konnte man einen derart großen Friedhof, der sich über den Eiermarkt bis zur Peter­si­li­en­straße erstreckte, schließen? Nach dem Edikt des Herzogs erfolgte zunächst einmal die einfach umzuset­zende Richt­linie, dass es künftig keinerlei Beerdi­gungen mehr in den Kirchen geben würde.

Das war schon ein Einschnitt in die Gewohn­heiten der Braun­schweiger, denn seit dem Mittel­alter konnten sich wohlha­bende Bürger einen Platz direkt am Altar kaufen, Dieses Vorrecht der reichen Patrizier nutzten insbe­son­dere in der Altstadt viele gern, während die anderen Bürger in weiterem Abstand und vielleicht in der Nähe von Reliquien oder anderen, beson­deren Gräbern, ihre letzte Ruhestätte fanden. Nur ehrlose Verbre­cher wurden vor den Toren der Stadt, also vor dem Okergraben und der Stadt­mauer, begraben.

Des Rätsels Lösung

Der Haupteingang von St. Martini ist nur über Treppenstufen zu erreichen. Als die Kirche im Mittelalter erbaut wurde, lag das Umgebungsniveau tiefer.Dann wurde in einem weiteren Schritt der gesamte Friedhof mit Erde verfüllt und das gesamte Niveau des Platzes dadurch angehoben. Deswegen gibt es keinen ebenerdigen Eingang mehr in die St. Martini-Kirche. Für die Gemeinde wurde ein neuer Friedhof erfor­der­lich. Bereits 1712 hatte die Gemeinde ein Grund­stück an der Hohetor­trift gekauft, weil auch der bisherige Platz für Beerdi­gungen nicht mehr ausreichte. Die Straße heißt heute Goslar­sche Straße, und dort wurden die Toten bis zur Eröffnung des Haupt­fried­hofes an der Helmstedter Straße im Jahr 1887 bestattet. Zwecks Vergrö­ße­rung hatte die Gemeinde noch 1767 Nachbar­grund­stücke dazu erworben. Auf dem neuen Friedhof von St. Magni, der vor einigen Jahren saniert wurde, gibt es noch einige Promi­nen­ten­gräber, darunter der Schrift­steller Johann Anton Leisewitz und der MK-Lehrer Prof. Konrad Koch, Vater des gleich­na­migen MK-Lehrers, Profes­sors und Fußball-Pioniers, dessen Grab selbst auf dem Zentral­friedhof einge­ebnet wurde.

Natürlich wurden die Toten des alten Fried­hofes an der Martini-Kirche nicht umgebettet. Augen­zeugen berich­teten nach der Bombar­die­rung unserer Stadt 1944, bei der nahezu 90 Prozent der alten Bausub­stanz zerstört wurde, von den makabren Bomben­lö­chern, in denen sich Überreste der Toten fanden. Was aller­dings vorher mit den betrof­fenen Teilen des Platzes bei der Errich­tung des herzog­li­chen Kammer­ge­bäudes am Platzrand 1764 und des Landschaft­li­chen Hauses durch Hofbau­meister Ch. G. Langwagen 1793 – 1798 geschah, wurde nicht überlie­fert.

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